Das Parlament | Nr. 6-7 | 01. Februar 2025 DEBATTENDOKUMENTATION 27 Filmszenen aufgenommenen in Schwarz-Weiß. Wir sehen die aufge- schichteten Leiber von Toten, wir se- hen die ausgezehrten Gesichter von Überlebenden. All das sehen wir wieder und wieder. Seit 80 Jahren. Das ist notwendig. Und doch liegt auch eine Gefahr da- rin. Die oft gesehenen Szenen, die bekannten Worte der Mahnung, die Routine der Erinnerung bergen die Gefahr einer falschen und trügeri- schen Gewissheit: Sie machen es uns leicht zu glauben, wir hätten vollends verstanden, was geschehen ist. Sie machen es uns leicht zu glauben, wir wüssten alles. Und sie machen es uns leicht, der Versuchung zu erliegen, all diese Bilder, Geschichten und Worte gedanklich in einer großen Kiste zu sammeln, auf deren Deckel steht: All dies ist so lange her. Aber die Zeit ändert nichts daran, was geschehen ist. Die historische Wahrheit lässt sich eben nicht weg- packen! Wir müssen uns dieser Wahrheit immer wieder von Neuem stellen. Und wir dürfen nicht darin nachlassen, sie den Nachkommen- den weiterzuerzählen. Dabei werden wir immer weniger die Gelegenheit haben, den Zeitzeugen zuzuhören. Wir werden besonders für die jungen Menschen neue Formen des Erin- Roman Schwarzman nerns finden müssen. Formen, die zunächst einmal das Wissenwollen in den Vordergrund rücken. Formen, die deutlich machen, dass wir alle – nicht nur die Jungen – immer noch Suchende, Lernende sind. Es ist eine Aufgabe unserer Generation, überall in Europa gegen das Vergessen zu ar- beiten. Eine Aufgabe, bei der wir nicht scheitern dürfen. Deshalb bin ich gerade in diesen Zei- ten den Menschen, die in deutschen Gedenkstätten forschen, lehren und arbeiten, so dankbar für ihr Engage- ment. Dass die Gedenkstätten heute aus politischen Gründen angegriffen und geschändet werden, dass Mitar- beiter beleidigt und bedroht werden, muss uns alarmieren! Diese systema- tischen Angriffe zielen ab auf Ein- schüchterung, auf Zerstörung und am Ende auf die Diskreditierung der Erinnerung und die Umschreibung der Geschichte. Wenn Gedenkstätten statt für Bildungsarbeit einen immer höheren Anteil ihres Etats für Sicher- heitsmaßnahmen ausgeben müssen, dann ist das eine Schande. Das dür- fen wir nicht hinnehmen in diesem Land! Vor zwei Tagen war ich, gemeinsam mit Holocaust-Überlebenden und Repräsentanten der deutschen Poli- tik, in Auschwitz. Es ist nicht weit von Berlin, unserer Hauptstadt, in der all das erdacht wurde, was dort geschah. Dort zwischen den Baracken zu ste- hen, bedeutet, vor einer unausweich- lichen Wahrheit zu stehen: Deutsche haben dieses Menschheitsverbre- chen organisiert und begangen. Deutsche haben diesen Abgrund der Unmenschlichkeit gegraben, sie ha- ben ihn geplant, vermessen und be- Wir sind und bleiben. Das heißt längst nicht mehr nur „Wehret den Anfängen!“, darauf hat Michel Fried- man zu Recht hingewiesen. Es müsste längst heißen: „Bedenke das Ende!“, wenn Antisemitismus Alltag ist in un- serem Land, auf unseren Straßen und Plätzen, in Schulen und Hochschulen. Das dürfen wir in unserem Land mit unserer Geschichte niemals zulassen! Gehen wir nicht zurück in eine dunkle Zeit. Wir wissen es besser. Machen wir es besser! FRANK-WALTER STEINMEIER rechnet. Die Opfer haben diesen Ab- grund durchschritten bis an sein En- de. Dieser Ort macht uns klar: Die Shoah ist ein Teil der deutschen Ge- schichte. Sie ist, ob wir wollen oder nicht, Teil unserer Identität. Es gibt kein Ende der Erinnerung und des- halb auch keinen Schlussstrich unter unsere Verantwortung. „Nie wieder!“, das bedeutet nicht nur, dass Jüdinnen und Juden in Deutsch- land, in Europa, in Israel sicher leben können. Es bedeutet, dass sie in unse- rem Land Teil unseres gemeinsamen Wir Deutsche haben Lehren aus un- serer Geschichte gezogen. Wir haben darauf unsere Verfassung gebaut. Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist die Antwort auf die unge- heuerlichen deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unsere Demokratie ist die Antwort auf Ras- senwahn und Nationalismus. Diese Lehren bleiben richtig und gül- tig, auch in einem Land, das sich ver- ändert. Sie haben uns getragen, uns Jahrzehnte des äußeren und inneren Friedens garantiert. Sie haben Ver- Alles daran setzen, die Barbarei in die Schranken zu weisen Menschheitsgeschichte durchlebt hat. Meine persönliche Geschichte ist eine Geschichte des Überlebens, des Kampfes und der Hoffnung. Meine Geschichte ist die Geschichte von Millionen von Menschen, die ihre ei- gene Geschichte nicht mehr erzählen können. Ich wurde am 10. September 1936 im ukrainischen Dorf Bershad‘ geboren. Wir waren neun Kinder zu Hause. Wir lebten in großer Armut und Enge – eine große Familie in zwei Räumen einer winzigen Behausung mit Boden und Wänden aus Lehm. Dort befan- den sich nur zwei Betten, auf denen jeweils vier Personen schliefen. Aber wir lebten. Zu Hause sprachen wir nur Jiddisch. Ich beherrsche diese Sprache auch heute noch sehr gut. In der Schule sprachen wir nur Ukrai- nisch. In unserem Dorf war das Ju- dentum vertreten, ungefähr die Hälf- te der Einwohner waren Juden. Wir wussten davon, aber wir haben nicht viel darüber gesprochen. Nach dem l r e h ö K s a m o h T / T B D © Roman Schwarzman Überlebender des Holocaust L assen Sie mich zu Beginn meinen aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass ich heute die Gelegenheit habe, hier vor Ihnen das Wort zu ergreifen. Ich stehe heute vor Ihnen als Person, die eine der grausamsten Seiten der rem Dorf gab es keinen Rabbiner. Re- ligion war verboten. Die sowjetischen Behörden unterdrückten nicht nur die jüdische, sondern auch die ortho- doxe Religion, vernichteten Synago- gen und Kirchen. Meine Mutter pflegte die jüdische Tradition auf ihre eigene Weise. Sie prahlte nicht damit. Sie tat es für sich. In unserem Dorf gab es viele ältere Juden, die im Ers- ten Weltkrieg gekämpft hatten. Sie sagten: Wir brauchen nirgendwo hin- zugehen, die Deutschen sind anstän- dige und kultivierte Menschen. Sie konnten sich nicht vorstellen, was uns erwartete. Als mein Vater und mein älterer Bruder in die Rote Ar- mee eingezogen wurden – das war am 23. Juni 1941 -, wies er meine Mutter an, uns an einen sicheren Ort zu bringen, da Hitlers Feindseligkeit Krieg, als wir älter wurden, gaben die sowjetischen Behörden uns zu ver- stehen, dass wir Juden vieles nicht durften. So durften wir zum Beispiel keine Universität besuchen. Die Ju- den haben immer versucht, ihrer Re- ligion treu zu bleiben. Selbst wenn sie sich in anderen Gesellschaften assi- Meine Geschichte ist die Geschichte von Millionen von Menschen, die ihre eigene Geschichte nicht mehr er- zählen können. ROMAN SCHWARZMAN milierten, bewahrten sie die jüdi- schen Werte. Mein Vater wurde 1936 Kommunist. Mein Bruder Lazar‘ und ich wurden nicht beschnitten, im Ge- gensatz zu meinen vier Brüdern, die vor 1936 geboren wurden. In unse- gegenüber den Juden bereits bekannt war. Unsere Flucht dauerte nicht lan- ge. Es waren schreckliche zwei Wo- chen, in denen wir mit einem von Pferden gezogenen Wagen ins Nir- gendwo fuhren, während wir bom- trauen wachsen lassen, bei unseren Partnern in Europa und der Welt und sogar bei denen – welch ein Ge- schenk! –, die einst Opfer der Deut- schen geworden sind. Das Bekennt- nis zu unserer fortdauernden Verant- wortung und die Erfolgsgeschichte unserer Demokratie, beides gehört zusammen, und ich würde mir wün- schen, dass das so bleibt. Wenn wir heute die Shoah verdrängen, ver- harmlosen, vergessen, dann erschüt- tern wir damit doch auch das Funda- ment, auf dem unsere Demokratie gewachsen ist. Und umgekehrt gilt: Wer heute die Demokratie lächerlich macht, verachtet, angreift, der ebnet auch den Weg zu Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit. Deshalb hat uns doch vorgestern in Auschwitz der Überlebende Leon Weintraub, 99 Jahre alt, so eindring- lich und fast verzweifelt gewarnt: „Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!“ Und ich wiederhole es hier im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren: Nehmt die Feinde der Demokratie ernst! Wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Wir haben es in der Hand, das Errungene zu be- wahren und unsere Demokratie zu schützen. Gehen wir nicht zurück in eine dunkle Zeit. Wir wissen es bes- ser. Machen wir es besser! bardiert wurden. Ich erinnere mich an die Maisfelder, durch die wir vor Soldaten mit Maschinengewehren flohen, und an Hunderte, Tausende Leichen von Zivilisten, die auf dem Boden liegenblieben, als wir weiter- gingen, um zu überleben. Dann ka- men die Panzer der Nazis. Für uns gab es keinen anderen Ausweg, als in unser Dorf zurückzukehren. An- schließend verbrachten wir zweiein- halb Jahre im Ghetto hinter einem Stacheldraht. Zweieinhalb Jahre vol- ler Erniedrigung, Schmerzen, Läuse und... mit ständigem Hunger. Über 80 Jahre sind vergangen, aber ich erinnere mich immer noch an den Geschmack des Wassers, das die Besatzer nach dem Waschen des Flei- sches weggeschüttet haben. Für sie war es Abwasser, und wir, fünf- bis sechsjährige schlüpften durch den Stacheldraht und riskier- ten unser Leben, um uns dieses köst- lich schmeckende Wasser mit dem Fett darinzu erbetteln. Vielleicht war es gerade dieses Wasser, dank dem wir überlebt haben. Von uns Kindern hatten sieben über- lebt – vier Brüder und drei Schwes- tern. Als wir nur noch auf dem Boden lagen und aufgrund einer schweren Form der Dystrophie nicht mehr auf- stehen konnten, wurden wir im Früh- jahr 1944 gerettet. In der Ukraine gab es ungefähr 2000 Orte, an denen über anderthalb Millionen Juden von der SS und der Wehrmacht erschossen, zu Tode geprügelt oder eigenhändig Kinder, Hochrangiger Besuch auf der Tribüne: An der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag nahmen unter anderem die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sowie ihr Nachfolger Wolfgang Thierse und die ehemaligen Bundespräsiden- ten Joachim Gauck und Christian Wulff teil. © DBT/Thomas Köhler/photothek