Inszenierung der Nichtinszenierung
Politische Kommunikation Geschlechterrollen in der Politik und den Medien
Ein Titel wie "Merkels Dekollete als Mediendiskurs" für eine wissenschaftlichen Aufsatz verspricht kurzweilige Lektüre. Wer hat nicht gestaunt über die Aufmerksamkeit, die deutsche und internationale Medien einem Körperteil der mächtigsten Frau der Welt widmeten. Die Kommunikationswissenschaftlerin Margreth Lünenborg analysiert mit Kollegen Bilder, Texte und Rezeption des Kanzlerinnen-Auftritts und anderer geschlechtsspezifischer Seltsamkeiten aktueller Berichterstattung. Thema des gedanken- und facettenreichen Forschungsbands "Politik auf dem Boulevard?" ist die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft.
In ihrer teilweise etwas sperrigen Einführung macht die Herausgeberin deutlich, wie wichtig eine geschlechtertheoretische Analyse der Veränderungen der politischen Kommunikation durch die veränderten Formen medialer Kommunikation ist. Systematische Unterscheidungen wie Öffentliches und Privates, Relevantes und Triviales, Unterhaltsames und Informatives taugten nicht mehr, relevante Entwicklungen angemessen zu erfassen. Aus geschlechtertheoretischer Sicht erweise sich die Auflösung dieser Zweiteilungen als produktive Irritation. Ausgehend von der Boulevardisierung eben auch der Politikvermittlung wird gefragt, ob die vielfach beklagte Verdrängung des Politischen die tatsächlichen Veränderungen überhaupt zutreffend umschreibt.
Sind medienöffentliche Debatten über Horst Seehofers Geliebte, das Liebesleben des französischen Präsidenten oder eben die Abendrobe einer Kanzlerin irrational, unvernünftig und anti-aufklärerisch? Erfasst die normative Verachtung die Bedeutung, die diese Boulevard-Themen für die Konstituierung von Gesellschaft übernehmen? Geprüft werden die beobachteten Diskurse mit Blick auf ihre Relevanz für in der Gesellschaft verhandelte Geschlechterrollen. Die einzelnen Beiträge beleuchten unter ganz unterschiedlichen Aspekten, wie die festgestellte Irritation produktiv gemacht werden kann.
Weibliche Journalisten
Der erste Abschnitt befasst sich mit dem Journalismus. In ihrem Beitrag "Ersatz für Queen Blabla gesucht" untersuchen die Autorinnen die Berichterstattung von "Spiegel" und "Spiegel online" über die Suche nach einer Nachfolgerin der Talkmasterin Sabine Christiansen. Es zeigt sich, dass die jahrzehntelange Praxis fortgesetzt wurde, "guten Journalismus" mit "männlichem Journalismus" gleichzusetzen. Der Beitrag über Karrieren im Journalismus belegt, dass die Boulevardisierung in der medialen Wahrnehmung mit dem vermehrten Auftreten weiblicher Journalisten in Beziehung gesetzt wird. Das aber bedeutet, dass Klagen über den Verfall des Journalismus ein Konstrukt im Konkurrenzkampf sein könnten.
Wie mediale Konstrukte entstehen, zeigt besonders der Beitrag über "Merkels Dekollete". Nur durch geschickte Bildausschnitte und -auswahl wurde die Aufmerksamkeit auf das Dekollete gelenkt. So wurde von zahlreichen Aufnahmen einer Begrüßungszeremonie ausgerechnet die veröffentlicht, auf der die Kanzlerin sich nach vorn beugt und einen noch tieferen Einblick gewährt. Die Autoren des Beitrags konstatieren, dass die Medienberichterstattung zumindest latent die Annahme reproduziere, Weiblichkeit bedinge - auch hier - beschränkte politische Kompetenz.
Jörg-Uwe Nieland bestätigt in seinem Beitrag über Angela Merkel, dass selbst die dritte Generation von Politikerinnen immer noch Stereotypen begegnet. Damit gewinne aber gerade das Kommunikationsmanagement von Frauen besondere Bedeutung. Merkel stragisches Konzept "Inszenierung der Nichtinszenierung von neuer Sachlichkeit und Nüchternheit" ziele darauf ab, als Politikerin und nicht als Frau bewertet zu werden. Ihre Auftritte auf dem Boulevard seien strategische Konsequenzen der medialen Emotionalisierung. Diese Art der Kommunikation könne sogar einen Demokratiegewinn bedeuten.
Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Medien-gesellschaft.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009; 330 S., 29,80 €