Vom Nebeltrinker lernen
BIONIK Natur als Vorbild für technische Neuerungen: Termitenarchitektur als Energiesparer
Der kleine schwarze Käfer verneigt sich gen Westen. An einem Sanddünenabhang der Namib-Wüste verharrt er, um zu trinken. Der Nebeltrinker-Käfer ist zu einer Ikone des Wüstenlebens geworden. Spezielle Strukturen auf seiner Körperoberfläche bringen aufziehenden Nebel dazu, sich als kleine Tröpfchen abzusetzen und sorgen dafür, dass das so aufgefangene Wasser Richtung Mund läuft.
Wüstentiere und -pflanzen inspirieren Ingenieure bei ihrer Suche nach technologischen Lösungen. Bionik oder Biomimikry heißt der Forschungszweig, der die Natur als Vorbild der Technik sieht. Wüstenorganismen sind für Bioniker besonders interessant - weil sie es mit einer extremen Umwelt zu tun haben und weil sie in Wüsten nachhaltig zurechtkommen. Deutsche Forscher und Ingenieure sind an vielen Projekten zur Wüstenbionik beteiligt. Marin Ebner von der Uni Tübingen und Anita Roth-Nebelsick vom Stuttgarter Museum für Naturkunde etwa untersuchen neben dem Nebeltrinker-Käfer auch ein Gras namens Stipagrostis sabulicula, das ebenfalls Nebeltröpfchen aus der Luft abfängt und sich so selbst gießt.
Aus den Vorbildern der Natur technische Anwendungen zu machen, mit denen dann etwa Wüstenbewohner Wasser aus der Luft sammeln könnten, ist alles andere als trivial. So war man sich etwa beim Nebeltrinker bis vor kurzem sicher, dass sein Wassersammelsystem auf einer Kombination mikros- kopisch kleiner wasseranziehender und wasserabstoßender Huckel und Furchen beruht. "Wir können aber jetzt schon sagen, dass der Käfer eine größtenteils glatte Oberfläche hat", sagt Roth-Nebelsick. Was ihn zu einem so effektiven Wassersammler macht, ist bisher nicht sicher geklärt.
Auch das Gras arbeitet auf den ersten Blick nach einem einfachen Prinzip: Es ist bis zu zwei Meter hoch, die Halme stehen senkrecht, Wasser läuft an ihnen herunter, Tröpfchen vereinigen sich, werden schwerer und erreichen schnell den Boden. Allerdings funktioniert das besser als bei bislang erprobten Kunststoffimitaten oder anderen Grassorten. "Wir haben erste Hinweise gefunden, dass die Oberfläche für diesen Halm-Abfluss optimiert ist", sagt Roth-Nebelsick. "Aber auch hier ist der genaue Mechanismus noch unklar."
Am Institut für Textil- und Verfahrenstechnik in Denkendorf wird derzeit versucht, Nebelfängermaterialien nach dem Vorbild der Natur zu optimieren. Die Beispiele des Nebeltrinkers und des Wüstengrases zeigen aber auch immer wiederkehrende Probleme. Die in Jahrmillionen Evolution entstandenen Anpassungen sind komplex und falsche Schlussfolgerungen können in eine technologische Sackgasse führen.
Wenn das Prinzip verstanden ist, wartet schon die nächste Hürde. Denn Strukturen und Systeme aus der Natur so nachzubauen, dass sie mit vertretbaren Kosten irgendwann in großem Stil vom Fließband laufen, ist oft schwierig. Marcus Rechenberger vom Fraunhofer-Institut für Umwelttechnik in Oberhausen probiert derzeit aus einem anderen Musterorganismus der Wüstenbionik ein Produkt abzuleiten - der Haut des Sandfisches. Wenige Mikrometer messende Strukturen verringern den Reibungswiderstand der Sandkörner so stark, dass das Reptil im Sand schwimmen kann. Die Oberhausener versuchen solche Strukturen im Industriemaßstab auf Folien zu pressen. "Wir glauben, dass sich das Material etwa für Oberflächenmaterialien von Zügen, die durch sandige Gebiete fahren, eignet", sagt Rechenberger. Das Prinzip könnte aber auch auf Maschinen, die zum Beispiel in Kieswerken eingesetzt werden, übertragbar sein.
Die Möglichkeiten der Wüstenbionik scheinen unbegrenzt. Der Bochumer Architekt Dieter Oligmüller entwirft Häuser, deren Klimasysteme Termitenbauten nachempfunden sind. Andere erforschen Rundkonstruktionen aus Lehm, die aufgrund ihrer Form ein raumklimagünstiges Verhältnis von Oberfläche zu Volumen haben und von Töpfervögeln, aber auch von amerikanischen Navajo-Ureinwohnern gebaut werden. Der Berliner Solarenergie-Professor Helmut Tributsch sieht in sogenannten Fensterpflanzen ein Vorbild für eine Wüstenarchitektur, denn sie verstecken sich größtenteils im Sand und leiten Licht für die Photosynthese durch kleine überirdische Kuppeln hinab.
Die Arbeitsgruppe von Christoph Neinhuis an der TU Dresden untersucht die Samenkapseln südafrikanischer Mittagsblumen. Deren Faserkonstruktion kann die Kapseln hunderte Male öffnen und schließen, wenn sie feucht und wieder trocken werden. "Wir hoffen, nach diesem Vorbild eine gezielt quellbare Substanz herstellen zu können. Die könnte man einsetzen für selbstregulierende Klappen, die auf Feuchtigkeit reagieren, oder auch für Feuchtigkeits-Sensoren", sagt Neinhuis. Was in der Wüste Samenkapseln explodieren lässt, weil gerade die Bedingungen zum Auskeimen gut sind, könnte technologisch also für ganz andere Zwecke eingesetzt werden.
Das Eastgate Centre in Simbabwes Hauptstadt Harare hat zwar mehr Geld gekostet als die Nachbarhäuser, verbraucht aber aufgrund seiner Termitenarchitektur nur etwa zehn Prozent der üblichen Energie - eine Ersparnis von etwa drei Millionen Dollar pro Jahr. "Solche praktischen Anwendungen sind insgesamt bisher noch die Ausnahme", sagt René Röspel (SPD), Mitglied des Forschungsausschusses im Bundestag. Doch die Wüstenbionik, da ist er sich sicher, "hat riesiges Potenzial".
Der Autor arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.