Die Quadratur des Kreises
WAHLRECHT Der Bundestag tut sich schwer mit der vom Verfassungsgericht geforderten Neuregelung
Wohl bei keiner anderen Gesetzgebung ist die jeweilige Parlamentsmehrheit so sehr in ihrem Eigeninteresse befangen wie bei der Wahlgesetzgebung, da es um die Basis ihrer eigenen Existenz als Mehrheit geht." Dieser Satz des Verfassungsjuristen Hans Meyer beschreibt treffend die aktuelle Auseinandersetzung um eine Reform des Bundestagswahlrechts. Diese ist dem Gesetzgeber durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 aufgegeben worden. Obwohl die Richter damals dem Gesetzgeber für die Neuregelung eine dreijährige Frist einräumten, wird die "Deadline" 30. Juni kaum noch zu halten sein. Zugleich scheint eine von der Opposition mitgetragene Lösung nicht in Sicht zu sein.
Im Unterschied zu den meisten anderen demokratischen Verfassungsstaaten hat das Wahlsystem in der Bundesrepublik keinen Verfassungsrang. Die Regierung ist daher auf die Zustimmung der Opposition oder zumindest der größten Oppositionspartei nicht angewiesen, wenn sie das Wahlgesetz ändern will. Dennoch hat sich hierzulande eine Praxis eingebürgert, nach der Wahlrechtsänderungen tunlichst einvernehmlich herbeizuführen sind, die Mehrheit die Minderheit also nicht "überfahren" darf.
Gegenstand der anstehenden Reform ist nicht die seit 1953 bestehende Grundstruktur des "personalisierten Verhältniswahlrechts" - diese wird weder von den Parteien noch vom Verfassungsgericht angezweifelt. Der Wahlbürger hat im bundesdeutschen Wahlsystem bekanntlich zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wählt er den Abgeordneten im Wahlkreis, mit der zweiten Stimme die Partei. Die Parteien treten dazu mit nach Bundesländern getrennten Kandidatenlisten an, deren Reihenfolge von den Wählern also nicht verändert werden kann. Für die Mandatsstärke der Parteien im Bundestag ist das Verhältnis der Zweitstimmen maßgeblich. Hat eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewonnen, als ihr nach dem dortigen Zweitstimmenanteil zustehen, darf sie diese trotzdem behalten.
Umstrittene Überhangmandate
Vor allem an diesen "Überhangmandaten" hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten der Streit um das Wahlsystem entzündet; das Bundesverfassungsgericht musste sich mit der Frage mehrfach befassen. Überhangmandate gelten als problematisch, weil sie das Verhältnisstimmenergebnis verzerren, das sich aufgrund der Zweitstimmen ergibt. Bezogen auf den einzelnen Wähler resultiert daraus ein unterschiedlicher Erfolgswert der Stimmen: Wer mit der Erststimme einem Wahlkreiskandidaten zum Direktmandat verhilft, dessen Partei in dem betreffenden Bundesland Überhangmandate erringt, mit der Zweitstimme aber eine andere Partei wählt, verfügt de facto über ein doppeltes Stimmgewicht.
Überhangmandate begünstigen nicht nur die großen Parteien zu Lasten der kleineren, da letztere kaum Chancen haben, Direktmandate zu gewinnen. Sie privilegieren auch die jeweils stärkere der beiden großen Parteien. Im Extremfall könnte das dazu führen, dass die zur Regierungsbildung erforderliche Sitzmehrheit erst durch Überhangmandate entsteht und so der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird. Die Verfälschung des Proporzes durch die Überhangmandate und die Ermöglichung eines doppelten Stimmgewichts stellen den Kritikern zufolge einen Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl dar, die als Wahlrechtsgrundsatz von der Verfassung geschützt ist.
Bis zur deutschen Einheit wurde der Makel nicht als gravierend empfunden, weil nur wenige Überhangmandate anfielen. Ihre starke Zunahme seit 1990 hängt mit den veränderten parteipolitischen Kräfteverhältnissen zusammen. Der rückläufige Zweitstimmenanteil der beiden Volksparteien führt dazu, dass die jeweils stärkere Partei weiterhin mit einer hohen Quote von Direktmandaten rechnen kann, die aber durch die erreichten Zweitstimmen nicht mehr automatisch gedeckt sind.
Bedingt durch die Konkurrenz einer starken dritten Partei - der PDS - trat dieser Effekt bis 2009 vorrangig in den neuen Ländern auf. Dass er sich bei der Wahl 2009 zugleich in den alten Ländern auswirkte, lag am großen Stimmenvorsprung der Union vor der SPD, der CDU und CSU eine erhebliche Zahl zusätzlicher Direktmandate bescherte. Dabei half ihnen die verstärkte Bereitschaft ihrer Wähler zum Stimmensplitting.
Das Verfassungsgericht konnte sich bislang nicht durchringen, Überhangmandate für verfassungswidrig zu erklären. Auch mit dem Urteil von 2008 wurde der Gesetzgeber lediglich aufgefordert, einen Auswuchs der Überhangmandate zu beseitigen, nämlich das "negative Stimmgewicht" (siehe Beitrag "Paradoxer Effekt"). Der so bezeichnete Effekt hängt mit dem verstärkten Auftreten der Überhangmandate zusammen. Er wird aber nicht unmittelbar durch diese verursacht, sondern ist Folge des Verrechnungsverfahrens zwischen Direkt- und Listenmandaten. Dieses wird dadurch verkompliziert, dass alle Parteien außer der CSU ihre Landeslisten untereinander verbinden - diese "verbundenen Listen" werden bei der Sitzverteilung gegenüber den anderen wie eine Liste behandelt. Eine Eliminierung des negativen Stimmgewichts wäre daher theoretisch auch ohne Beseitigung oder Neutralisierung der Überhangmandate möglich.
An dieser Stelle fällt das Interesse der Parteien an einer gemeinsamen Lösung auseinander. Die Union, die in der jetzigen Konstellation des Parteiensystems der Hauptprofiteur der Überhangmandate ist, tritt für eine Lösung ein, die das negative Stimmgewicht ganz oder weitgehend beseitigt, ohne die Überhangmandate selber anzutasten. SPD, Grüne und Die Linke favorisieren dagegen eine Reform, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Überhangmandaten deutlich reduziert beziehungsweise die durch sie bewirkte Verfälschung des Proporzes mittels Ausgleichsmandaten rückgängig macht. Die FDP wiederum ist in ihrer Interessenlage gespalten. Auf der einen Seite wird sie als kleine Partei durch Überhangmandate ebenso benachteiligt wie die Grünen und Die Linke, weshalb sie im Grunde eher auf der Linie der Oppositionsvorschläge liegen müsste. Auf der anderen Seite würde sie bei einer Unterstützung des Unionsvorschlags nicht nur die Chancen für eine Stabilisierung der schwarz-gelben Mehrheit erhöhen, sondern aufgrund des zusätzlichen Anreizes zum Stimmensplitting, den die Überhangmandate erzeugen, auch selbst profitieren.
Koalition uneinig
Welche Lösung wird es am Ende geben? Bislang haben nur die Grünen einen Gesetzentwurf (17/4694) vorgelegt. Er ist weitgehend identisch mit der Vorlage, die die Fraktion bereits vor der Bundestagswahl 2009 eingebracht hatte, und sieht eine Verrechnung der Überhangmandate mit Listenmandaten der betreffenden Partei in anderen Bundesländern vor. Das Problem des Vorschlags liegt darin, dass er den Parteienproporz durch eine Verletzung des föderalen Proporzes erkauft: Bestimmte Landesverbände müssten für die Überhänge anderer Landesverbände "bluten". Aus diesem Grunde stößt der Entwurf nicht nur bei der Union, sondern auch bei der SPD auf Ablehnung, die ihm 2009 noch eine gewisse Sympathie entgegenbrachte. Heftigen Widerspruch auf der Unionsseite erfährt zudem die in der Vorlage vorgesehene Neutralisierung von Überhangmandaten der CSU, für die eine Verrechnungsmöglichkeit mit den CDU-Landeslisten entfällt: Hier sollen die "überschüssigen" Direktmandate dem Grünen-Vorschlag zufolge einfach unbesetzt bleiben.
Die SPD tritt für ein zweistufiges Verfahren ein. Für die kommende Bundestagswahl strebt sie eine Übergangslösung mit Ausgleichsmandaten an - wohlwissend, dass die dadurch bewirkte Aufblähung des Parlaments um bis zu 70 Abgeordnete der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln wäre. In der nächsten Legislaturperiode soll dann ein Neuzuschnitt der Wahlkreise vorgenommen werden, um den Anteil der Direktmandate an den Gesamtmandaten abzusenken; denkbar wäre etwa eine Quote von 40 Prozent. Die vergrößerten Wahlkreise wären zwar durch die Abgeordneten schwerer zu betreuen und das Gewicht der Personenwahl geringer; dafür würden aber keine oder deutlich weniger Überhangmandate anfallen und entsprechend auch kein negatives Stimmgewicht mehr auftreten.
Wie die SPD hat auch die Linksfraktion für die kommende Sitzungswoche Ende Mai einen Gesetzentwurf angekündigt. Darin greift sie den Ansatz der Grünen auf, setzt aber mit Blick auf mögliche CSU-Überhänge auf Ausgleichsmandate.
Unklar ist zur Zeit noch, wie sich die Koalition positioniert. Ein bereits angekündigter Gesetzentwurf, der eine Rückkehr zu getrennten Wahlgebieten durch Auflösung der Listenverbindungen - unter Beibehaltung der bundeseinheitlichen Fünf-Prozent-Hürde - vorsah, ist wieder in Frage gestellt worden. Er würde dem Wahlrecht entsprechen, das bei der Bundestagswahl 1953 angewandt worden ist. Hinweise von Wahlrechtsexperten, wonach dieses Modell das negative Stimmgewicht nicht ausräumen, sondern sogar zusätzliche Verzerrungseffekte heraufbeschwören würde, haben die Koalition offenbar nachdenklich gemacht. Ob eine Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils ohne wenigstens teilweise Reduktion der Überhänge erreicht werden kann, ist in der Tat zweifelhaft. Die Regierung läuft insofern ein hohes Risiko, wenn sie eine Lösung durchsetzt, die Überhangmandate im derzeitigen Umfang beibehält.
Dass es womöglich erst einer weiteren Entscheidung aus Karlsruhe bedarf, um die Parteien zu einem Konsens in der Wahlrechtsfrage zu zwingen, ist kein Ruhmesblatt für den Bundestag. Auch das Verfassungsgericht muss sich fragen lassen, ob es klug beraten war, den Parteien bei der Umsetzung seines letzten Urteils so viel Zeit zu lassen. Hätte es die Reform noch vor der Bundestagswahl 2009 angeordnet, wären Union und SPD in der Großen Koalition "verdammt" gewesen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Nachdem die CDU selbst (laut ihrer Stellungnahme in den nicht mehr zur Entscheidung gebrachten Wahlprüfungsverfahren zur Bundestagswahl 2002) die Überhangmandate für "rechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert" hält , ist es schwer nachvollziehbar, warum sie diese prinzipiellen Bedenken jetzt einem - vielleicht nur kurzfristig wirksamen - Machtvorteil opfern will. Dies gilt umso mehr, als SPD und Grüne versuchen könnten, auf eine die Union begünstigende "überhangfreundliche" Regelung mit Absprachen über gemeinsame Wahlkreiskandidaten zu reagieren.
Der Autor ist Professor für Politische
Wissenschaft an der Universität Bonn.