Der Wanderzirkus nach »Stressburg«
EUROPAPARLAMENT I Die Pendelei zwischen Straßburg und Brüssel ist ein Ärgernis
Ruhig wie ein routinierter Lotse steht der Mann mitten im Gewimmel. Einmal hebt er die behandschuhte Rechte, dirigiert streng die Fracht in Richtung Verladerampe, dann senkt er sie wieder und zieht sich die derben Montagehandschuhe von den Fingern. Auch wenn die Hände aufgehört haben zu agieren, scheint er alles im Griff zu haben: das ganze Chaos, das sich zu dieser späten Stunde in den Katakomben des Brüsseler Europaparlaments aufgestaut hat. Es ist Freitagnacht, einer der Freitage, an dem Phase I des Umzugs nach Straßburg beginnt. In der elsässischen Metropole tagen die Europaparlamentarier seit der ersten Direktwahl 1979. Längst schon haben in Brüssel die Abgeordneten dem hohen Haus den Rücken gekehrt, auch ihre Assistenten und die Verwaltungsangestellten sind ins Wochenende verschwunden. Nur unten in der Tiefgarage mit ihrer großräumigen Verladezone herrscht Hektik: Aus den Fahrstühlen quellen Trollies, beladen mit je fünf bis sechs Plastikcontainern. 25 angeheuerte Hilfskräfte karren die schweren Wagen heran. Ein ganzes Gebirge von grünen Kisten türmt sich auf, bevor Gilbert Rondelli, der "Packmeister" dieser Tour, mit flinken Handbewegungen das Kommando zum Verstauen gibt. Im Fünferpack verschwinden die Behälter im Bauch des Sattelschleppers. werden Schicht um Schicht sorgfältig festgegurtet. Die Hebebühne fährt ein und die schwere Ladetür fällt ins Schloss. Dann lenkt der Fahrer seinen Truck vorsichtig zur Seite, um dem nächsten Platz zu machen.
Gezielt entladen
Packen, das folgt in der "Unterwelt" des Europaparlaments ganz eigenen Gesetzen: Die Kisten müssen nach ihrem Bestimmungsort sortiert werden, nach den verschiedenen Winkeln des Straßburger Hauses, damit in der elsässischen Metropole gezielt entladen werden kann. Teures Equipment, das wissen die Männer, wandert in den weißen, den parlamentseigenen Lkw. Der schluckt die blauen Großcontainer mit audiovisuellem Gerät und kostspieligen Kameras.
Derweil wacht Rondellis scharfes Auge über der Großaktion. Rondelli, wie der Name schon sagt, ist italienischer Abstammung, aber in Luxemburg aufgewachsen und ansässig, kennt sich aus: Er ist seit 1986 dabei und gilt als "Allzweckwaffe" in diesem Umzugsgeschäft der besonderen Art. Mit drei Kollegen ist er diesmal im Einsatz, drei der 30 Festangestellten des "Service Déménageurs", die Monat für Monat das gigantische Unterfangen Brüssel - Strassburg und retour managen. Seit 17 Uhr sind die Packer im Einsatz: sorgfältig haben sie die langen Flure des 15-stöckigen Gebäudeensembles abgeklappert, haben die Boxen zusammengetragen und aufgetürmt. Auch die des Abgeordneten Andreas Schwab, auf der in gelben Lettern "MEP - ASP15E130 - LOW T 10147" steht. Das ist die Ortsangabe der beiden Büros des baden-württembergischen Europapolitikers: ASP steht für das Altiero-Spinelli-Gebäude in Brüssel, LOW für den Louise-Weiss-Flügel in Straßburg. Sorgfältig haben Schwabs Assistenten schon am Morgen die Dokumente in der Box verstaut: Diesmal waren es Unterlagen für die Verbraucherrechtsrichtlinie, Reden für Veranstaltungen und das Info-Material für Besuchergruppen - eben all das, was der engagierte Parlamentarier für die "Straßburg-Woche" so braucht.
Gelbes Ungetüm
Bevor die Vorhangschlösser an der Box einklinken, gehen die Mitarbeiter die Checkliste noch einmal durch. Nur ja nichts vergessen, denn Straßburg ist weit. Dann wandert das gelbe Ungetüm auf den Flur, wird eine von vielen Kisten, die sich vor dieser Umzugsnacht wie die Soldaten vor den Bürotüren reihen.
Inzwischen ist es 23 Uhr. 14 Stockwerke tiefer sind die fünf Brummis bepackt, ihr Laderaum ist bis auf den letzten Zentimeter angefüllt: 2.500 Kisten verladen und festgegurtet - 2.000 aus Brüssel und 500, die am Mittag vom Verwaltungssitz der Volksvertretung in Luxemburg herangekarrt wurden. Auch die 15 blauen Großcontainer mit der Technik haben ihren Platz gefunden. Gegen Mitternacht steht der Konvoi fahrbereit. Die Motoren der Sattelschlepper heulen auf. Dann rollen die 40-Tonner über die unterirdische Fahrstraße hinaus in die Nacht. 530 Kilometer liegen vor den Fahrern - mit einem obligatorischen Stopp im Spritparadies Luxemburg, wo sie gehalten sind, billigen Diesel zu tanken. Um ein Uhr wird sich der Truck aus dem Fuhrpark des Parlaments mit den hochsensiblen Geräten an ihre Fersen heften.
Zwölf Mal im Jahr tüfteln die EU-Parlamentarierer in Straßburg für je vier Tage an der europäischen Gesetzgebung. Einst war es als Provisorium gedacht, weil es in Brüssel noch keinen passenden Bau für das Parlament gab. Seit 1992 ist die Arbeitsteilung EU-vertraglich verankert. Und Frankreichs Regierung ist entschlossen, den prestigeträchtigen Parlamentssitz gegen alle Widerstände zu verteidigen. Selbst als die Abgeordneten 1997 nur eine der zwölf Sitzungswochen streichen wollten, zog Paris vor den Europäischen Gerichtshof - mit Erfolg. So strömen die 734 Parlamentarier allmonatlich aus Europas Regionen zwischen Lappland und Malta, der Schwarzmeerküste und den Kanaren herbei. Und mit ihnen 1.200 Beamte und Parlamentsbedienstete aus Brüssel und 525 aus Luxemburg. Hinzu steuern rund 200 Journalisten, Hunderte Parlamentsbesucher und Dutzende von Interessenvertretern zum lichten Glaspalast an der Ill. Sie bringen Leben in die gemächliche Münster-Metropole und sind als Wirtschaftsfaktor hochwillkommen: 4.000 Hotelbetten bis hinüber ins deutsche Kehl sind ausgebucht, unzählige Tische in den Restaurants schon vorgemerkt, Hunderte von Taxis vorbestellt.
Einigen der 734 Volksvertreter bedeutet Straßburg Abwechslung im Alltagstrott. Anderen ist der Sitz ans Herz gewachsen: "Hier ist im Gegensatz zum weitläufigen Brüssel mit seinen vielen EU-Institutionen alles kompakt beieinander", schwärmt der Südbadener CDU-Mann Andreas Schwab und meint damit seine Abgeordnetenkollegen und die EU-Kommissare, die dienstags dazustossen, um ihr wöchentliches Treffen abzuhalten. Für immer mehr mutiert Straßburg allerdings zum "Stressburg", sie würden den Wanderzirkus lieber heute als morgen einstellen. Die Gegner sehen ihren Platz in Brüssel, wo die EU-Kommission ihren Sitz hat und die EU-Regierungen im Ministerrat zusammenkommen.
Eine Millionen Unterschriften
Schon Simone Veil, 1979 erste Präsidentin des direkt gewählten EU-Parlaments, kämpfte gegen die vorgeschriebene "Karawane" ins Elsass. 2006 rannten Europas Liberale gegen die Bastion an. "No need for two seats" ("Kein Bedarf für zwei Sitze") , hieß die von Alexander Alvaro organisierte Aktion, die im Internet immerhin eine Million Unterschriften sammeln konnte. "Ein Jahr für Jahr 200 Millionen verschlingender Reisezirkus ist den Bürgern schwer zu vermitteln", moniert der Deutsch-Portugiese, der - Mitte 30 und Mitglied der FDP - mit hundert anderen Parlamentariern die "Kampagne zur Parlamentsreform" organisierte. Auf deren Agenda stand der Kampf gegen den zweiten EU-Sitz ganz oben. Auch die Grünen prangern das klimaschädliche Arrangement des Doppelsitzes an, durch das jährlich 20.000 zusätzliche Tonnen CO2 in die Atmosphäre geblasen werden. Ein Großteil der Volksvertreter hat den monatlichen Trip an die Ill gründlich satt. Glaubt man einer aktuellen Studie, dann will die Mehrheit weg. 91 Prozent der befragten Europapolitiker plädierten für einen ständigen Parlamentssitz Brüssel.
Den meisten raubt die umständliche An- und Abreise den letzten Nerv: Direktflüge nach Straßburg gibt es nur von wenigen Flughäfen, und die Zugverbindungen sind lausig. Die Gegner hoffen, dass sich eines Tages eine EU-Einrichtung findet, die Paris überzeugen könnte, den Tross endgültig ziehen zu lassen. Die Entscheidung über die "Sitzfrage" obliegt aber nicht dem Parlament, sondern allein den Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft. Und die reisen so selten ins Elsass, dass sie gar nicht beurteilen können, was da abgeht. Ein paar Deputierten geht die Debatte derweil so auf den Geist, dass sie nur noch abwiegeln. "Dieses Thema kommt alle paar Monate wieder, weil sich jemand damit profilieren will", ärgert sich etwa Martin Schulz. Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament kontert dann gerne polemisch: "Fragen Sie doch mal Frau Merkel, ob sie den Sitz der EZB von Frankfurt nach Frankreich verlegen würde".
Dornröschenschlaf
Von den Gewitterwolken, die sich mit steter Regelmässigkeit über Straßburg zusammenbrauen, ist am Montagmorgen nichts zu spüren. Wie immer zum Auftakt der Sitzungswoche erwacht das Haus langsam aus seinem dreiwöchigen Dornröschenschlaf, während dem sich nur das Büro des EU-Bürgerbeauftragten und die Putztrupps im weiten Labyrinth der Gänge verlieren. Die Assistenten trudeln ein, beziehen die winzigen Büros ihrer Abgeordneten. Vor der Tür warten die Kisten. Auch die von Andreas Schwab ist angekommen. Dennoch gibt es auch hier Arbeit für Gilbert Rondelli: Er prüft, ob die Brüsseler Fracht wirklich komplett am Ziel ist. Hin und wieder sind die Boxen falsch ausgeliefert und müssen dann per E-Mail-Rundschreiben gesucht werden. Am Nachmittag wird der letzte Lkw ankommen, der Nachzügler, der all das liefert, was die Volksvertreter in Brüssel vergessen haben. Dann bereitet sich der vielsprachige Logistiker auf die Rücktour vor: Am Donnerstag werden die grünen Plastikbehälter ihre Fahrt zurück nach Brüssel antreten. Dann setzt sich der Wanderzirkus wieder in Bewegung. Diesmal in Richtung Norden.