Schlüsselrolle für die arabische Welt
ÄGYPTEN Noch ist der Traum von Demokratie nicht ausgeträumt. Setzt sie sich durch, werden sich andere arabische Staaten diesem Sog nicht entziehen können
Als die Ägypter am 11. Februar dieses Jahres den Diktator Husni Mubarak nach 30 Jahren an der Macht aus dem Präsidentenpalast verjagten, schien am Nil der Weg Richtung Demokratie frei zu sein. Und mehr noch: Als Regionalmacht im Nahen Osten sollte Ägypten nach Tunesien ein weiterer Dominostein sein, der die Theorie stützt, wonach in der arabischen Welt nun eine Diktatur nach der anderen ihr Ende erleben könnte. Doch davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Anders als Mubarak und sein tunesischer Kompagnon Zine el-Abidine Ben Ali klammern sich Despoten wie Syriens Bashar al-Assad oder - bis in die vergangene Woche - Muammar al Gaddafi in Libyen an die Macht und schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Wenige Monate nach dem Jubel über die "Arabellion" ist es um die Demokratie in der Region noch lange nicht gut bestellt.
Im Griff der Armee
Zugleich drängt sich vielen in der westlichen Welt die Frage auf, ob islamistische Kräfte die größten Nutznießer des Aufstands sein könnten. Dabei sitzt ihnen auch der Schockmoment vom 11. September 2001 im Nacken und die Erinnerung an die Taliban-Herrschaft in Afghanistan, die dem Terror gegen den Westen in Gestalt von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden damals eine Heimstatt gab. Die Gefahr eines solchen "Gottesstaates" ist zwar in keinem der arabischen Länder zu erkennen. Doch die Muslimbrüder in Ägypten oder die islamistische An-Nahda-Partei in Tunesien haben gute Aussichten auf Erfolge bei freien Wahlen. In Ägypten, als bevölkerungsreichstes Land der arabischen Welt eine Schlüsselmacht der Region, machen sich zudem noch radikalere Kräfte bemerkbar. Ende Juli etwa strömten in Kairo Tausende Anhänger der ultra-frommen Salafiten mit Rufen nach der Scharia auf den Tahrir-Platz.
Während der Westen vor allem islamistische Kräfte als Gefahr für die Demokratiebewegung sieht, sollte er jedoch zunächst die Armee Ägyptens im Auge behalten - sie hat das Land seit dem Abgang Mubaraks fest im Griff. An der Spitze steht der Oberste Rat der Streitkräfte, geleitet von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi. Der 75-Jährige ist - wie fast alle Offiziere - ein Mann des alten Systems. Bereits 1991 übernahm er das Amt des Verteidigungsministers, weshalb er früher als "Mubaraks Pudel" verspottet wurde.
Die Rolle des Militärs ist schwer zu deuten. Einerseits gibt es sich als Hüter der Revolution und verspricht, die Macht nach freien Wahlen an eine zivile Regierung abzugeben. Auch deshalb ist sein Ansehen bei vielen Ägyptern hoch. Andererseits geht es gegen kritische Journalisten vor, noch immer müssen sich Zivilisten vor Militärgerichten verantworten - die Rede ist von mehr als 10.000 Fällen. Für Aufsehen sorgt gerade der Fall der Bloggerin Asmaa Mahfouz. Die 26-Jährige muss sich vor einem Militärgerichtshof verantworten, weil sie den Obersten Militärrat beleidigt haben soll.
So viel dürfte feststehen: Die ägyptische Armee wird die Macht nur dann an eine zivile Regierung abgeben, wenn ihre eigenen Pfründe unangetastet bleiben. Es waren Offiziere, die 1952 unter dem Jubel des Volkes Ägyptens König Faruk stürzten. Seitdem genoss die Armee einen halb-autonomen Status. Ihre Unabhängigkeit von der Politik wollen die Offiziere auch nach freien Wahlen behalten, wie hohe Generäle öffentlich kundgetan haben. Die Offiziere besitzen zudem ein großes Wirtschaftsimperium, das einen erheblichen Teil der ägyptischen Volkswirtschaft ausmacht. Wer danach greift, muss mit Widerstand der Militärs rechnen.
Wütend sind viele Ägypter auch, weil die Armee die Hand über Strukturen des alten Systems hält. Die Demonstranten konnten zwar, die erste Reihe des Unrechtsregimes stürzen - in der zweiten und dritten Reihe sitzen aber weiter alte Kader, nicht zuletzt in Ägyptens gefürchteter Staatssicherheit.
Ist der Traum von Demokratie in Ägypten schon ausgeträumt? Trotz der bedenklichen Entwicklungen lautet die Antwort: Nein, keineswegs. Die junge Generation, die die Proteste bis heute trägt, hat durch den gelungenen Sturz des Despoten ein ganz neues Selbstvertrauen gewonnen. Sie weiß jetzt, wie stark sie ist, wenn sie vereint auf die Straße geht. Längst hat sie sich die Ideen von Freiheit und Demokratie zu eigen gemacht. Ihre Angst vor einer gewaltsamen Reaktion der Regierenden hatte sie schon vor Mubaraks Sturz abgelegt. Sollte ein neuer Diktator nach der Macht greifen, egal ob in Uniform oder religiösem Gewand, wird die junge Generation wieder auf die Straße ziehen und ihre Rechte einfordern.
Türkisches Modell
Vieles spricht dafür, dass in Ägypten ein System ähnlich dem bisherigen türkischen Modell entsteht: eine Demokratie mit ziviler Regierung, die stets die starke Hand des Militärs im Nacken spürt. Ob und wie sich die Politik mittel- oder langfristig aus diesem Griff befreien kann, ist kaum vorzuhersagen. Wer immer nach den Wahlen an die Macht kommt, muss zunächst die soziale und wirtschaftlich Not bekämpfen. Nur wenn das den kommenden Regierenden gelingt, dürften sie im Volk so populär werden, dass sie den Generälen nach und nach ihre Macht nehmen könnten.
Sollte am Nil tatsächlich etwas entstehen, was den Namen Demokratie verdient, werden sich auch andere arabische Staaten diesem Sog über kurz oder lang nicht entziehen können. Sollte die Demokratiebewegung in Ägypten jedoch scheitern, wird sie auch in anderen Ländern unterliegen. Dann jubeln die Diktatoren.
Der Autor ist Islamwissenschaftler und
arbeitet als freier Journalist in Berlin.