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ANTISEMITISMUS Bericht im Auftrag des Bundestages belegt Vorurteile in Bevölkerung. Fehlende Gesamtstrategie bemängelt
Eigentlich fühle er sich in seiner Freiheit nicht eingeschränkt, sagt Aaron und zieht seine graue Basecup lässig ein Stück tiefer ins Gesicht. Und auch seine Mitschülerin Dalia findet: "Man muss Abstriche machen, aber man kann hier frei leben." Aaron und Dalia sind junge Juden in Deutschland: Sie sind in Berlin geboren, haben die jüdische Grundschule besucht und bereiten sich jetzt auf der Jüdischen Oberschule in Berlin-Mitte auf das Abitur vor. Die 17-jährige Dalia ist Schulsprecherin und engagiert sich in ihrer Freizeit bei der "Jungen Union", Aaron ist 16 und hat lange Zeit im Verein Fußball gespielt.
Zwei Leben, die sich von dem Gleichaltriger kaum unterscheiden. Doch es sind die kleinen, eigentlich unspektakulären Geschichten, die zeigen, dass der Alltag von Juden in Deutschland noch immer von Stereotypen, Vorurteilen und versteckten, aber auch offenen Aggressionen begleitet wird. "Ich würde nicht mit einem Davidstern durch die Straßen gehen. Man muss ja nicht provozieren", sagt Aaron, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Dalia erzählt, wie sie einmal mit Freunden, die Jungen mit Kippa auf dem Kopf, die Mädchen mit Israel-T-Shirts, in ein großes Kaufhaus am Berliner Ku-Damm gegangen sind. "Das war erschreckend, die haben uns angeschaut als wären wir Verbrecher." Und als sie dort auch noch nach koscheren Lebensmitteln fragten, sagte die Verkäuferin: "Wir sind doch nicht im Judenland", berichtet sie.
Verschiedene Formen
Diese Erlebnisse sind Beispiele für den sogenannten "Alltagsantisemitismus" - eine von vielen Formen des Antisemitismus in Deutschland, die der aktuelle Antisemitismusbericht erstmals zusammenfasst. Drei Jahre lang haben zehn Wissenschaftler und Praktiker an dem über 200 Seiten langen Papier gearbeitet. Der Antisemitismusbericht (17/7700) der Bundesregierung, der dem Parlament Anfang November übermittelt wurde, geht auf eine Initiative aller fünf Fraktionen zurück. In zwei gleichlautenden Anträgen hatten 2008 CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen (16/10775) und Die Linke (16/10776) gefordert - 70 Jahre nach der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 -, den Kampf gegen Antisemitismus zu verstärken und jüdisches Leben in Deutschland zu fördern. Konkret wurde darin ein Expertengremium beauftragt, "in regelmäßigen Abständen einen Bericht zum Antisemitismus in Deutschland zu erstellen". Juliane Wetzel gehört zu den zehn Mitgliedern des unabhängigen Expertenkreises, die den Bericht erarbeitet haben. "So eine Art von Bericht hat es in Deutschland noch nicht gegeben", sagt die Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.
Antisemitismus definieren Wetzel und ihre Kollegen als Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die "Juden und als Juden wahrgenommene Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Einstellungen unterstellen", heißt es in dem Bericht. Sie zeigen: Antisemitismus ist kein Phänomen von gestern, sondern er existiert bis heute in den verschiedensten Formen - auch jenseits offener rechtsextremer und den Judenhass propagierender Milieus. Dennoch ist das rechtsextremistische Lager, so der Bericht der Experten, "der bedeutendste politische Träger des Antisemitismus". Das "jüdische Feindbild" stellt ein wichtiges Bindeglied für die Ideologie des keineswegs homogenen Rechtsextremismus dar, das um andere rassistische Feindbilder wie "Ausländer" oder "Muslime" ergänzt wird.
Hier kommt es auch zu den meisten antisemitischen Straftaten: 2010 wurden als "politisch motivierte Kriminalität (PMK)" 1.268 Straftaten gemeldet, davon entfielen, wie auch in den vergangenen Jahren, mehr als 90 Prozent auf Täter von rechts. Im Vergleich dazu, fallen Straftaten aus dem linken Milieu kaum ins Gewicht: Wurden 2010 von rechts 37 antisemitische Gewalttaten verübt, meldeten die Behörden im Bereich des Linksextremismus seit 2006 lediglich eine einzige Straftat. Antisemitismus, erläutern die Autoren, ist kein Bestandteil der Ideologie des Linksextremismus. Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte: "Die Diskurse zum Nahostkonflikt überschreiten manchmal die Grenze zum Antisemitismus", sagt Wetzel. Den Schwerpunkt des Antisemitismus in Deutschland sehen die Experten aber an ganz anderer Stelle: "Wir haben uns nicht auf die Extremismen kapriziert, sondern versucht, Alltagsantisemitismus aufzuzeigen. Also: was passiert in Parteien, Vereinen oder auch in den Kirchen", sagt sie.
Wetzel und ihre Kollegen gehen davon aus, dass es in der Bevölkerung "etwa 20 Prozent latenten Antisemitismus" gibt. Ein Wert, der laut Umfragen in den letzten zehn bis 20 Jahren etwa konstant geblieben ist. Es gebe eine "tiefe Verankerung antisemitischer Stereotype und Wahrnehmungsmuster in der Alltagskultur", heißt es in dem Bericht.
Katalysator Nahostkonflikt
Neben den "klassischen" antisemitischen Vorurteilen, wie etwa Juden besäßen zu viel Einfluss (Verschwörungstheorien) oder Juden zögen Vorteile aus dem Holocaust (sekundärer Antisemitismus), wird in den letzten Jahren Antisemitismus in Verbindung mit dem Nahostkonflikt immer ausgeprägter: Kritik an Israel, die den Staat Israel mit "den Juden" gleichsetzt und israelische Politik mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vergleicht. Eine Form des Antisemitismus, der sich nicht in dumpfen Parolen auf der Straße entlädt, sondern laut Studie auch in gebildeten Kreisen bei gepflegten Abendessen durchaus akzeptiert wird.
Diese Beobachtung hat auch Timo Reinfrank von der Amadeu-Antonio-Stiftung gemacht: "Durch die Thematisierung des Nahostkonflikts werden Stereotypen wieder gesellschaftsfähig gemacht", sagt der Projektkoordinator der Stiftung. Seit gut zehn Jahren unterstützt sie Projekte und Initiativen gegen rechtsextreme Gewalt - und stellt sich immer wieder der Frage, wie und mit welchen Mitteln Antisemitismus bekämpft werden kann.
Bei den Präventionsmaßnahmen sehen die Verfasser des Berichts neben oft guten Ansätzen auch Defizite: "Auf vielen Gebieten fehlt uns die Grundlagenforschung. Zum Beispiel, wie verbreitet der Antisemitismus unter Muslimen oder anderen Migrationsgruppen ist und was in Vereinen oder Kirchen passiert", sagt Wetzel.
Auch den Umgang mit dem Thema Antisemitismus in Schulen sieht sie kritisch. Lange Zeit habe man dort auf eine "Betroffenheitspädagogik" gesetzt und den Schülern "eine Schuld auf die Schultern" gelegt, mit der sie nicht umgehen konnten. Viele habe das überfordert. Und die Historikerin gibt zu bedenken:"Nur weil die Menschen etwas über den Holocaust wissen, sind sie nicht davor gefeit, antisemitische Stereotype zu transportieren."
Keine Tabuisierung
Der Bericht fordert daher mehr Programme, bei denen aktuelle Probleme behandelt werden. Projektkoordinator Reinfrank weiß, wie wichtig das ist: "Es geht nicht um eine Tabuisierung, sondern um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Es geht darum, Haltung zu entwickeln". Er verweist auf ein anderes Problem, das auch die Wissenschaftler anprangern: "Es gibt immer wieder Frust, weil die Programme nach drei Jahren enden", sagt Reinfrank. Dadurch gingen immer wieder Geld, aber auch Fachkompetenz verloren. Der Politikwissenschaftler, der früher auch einige Jahre im Jüdischen Museum in Berlin gearbeitet hat, freute sich daher, dass der erste Antisemitismusbericht "sowohl auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung als auch der Probleme angekommen ist". Und er teilt die Kritik der Experten, dass eine Gesamtstrategie zum Thema Antisemitismus in Deutschland bislang fehlt. Gerade auch angesichts der Diskussionen um die Mordserie der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle wundert er sich, das der Bericht bislang noch auf keine große Resonanz gestoßen ist: "Ich würde mir wünschen, dass der Bericht in den parlamentarischen Gremien behandelt wird", sagt er.
Auch Dalia und Aaron wünschen sich einen anderen Umgang mit dem Thema Antisemitismus hierzulande. "Man muss die Initiativen an die richtigen Orte bringen. In den Gymnasien ist das gut und tut auch nicht weh, aber man sollte auch mal an die Haupt- und Realschulen gehen", findet er. Dalia macht sich, was das Thema angeht, keine Illusionen: "Es wird immer Antisemitismus geben, aber es kommt auf die Form des Antisemitismus an. Und es kommt darauf an, wie die Gesellschaft und die Politik damit umgehen - und wie sie dagegen hält."