Ende einer Hängepartie
SOZIALSTAAT Bundestag und Bundesrat beschließen Hartz-IV-Reform - Gegenseitige Vorwürfe in Debatte
Ursula von der Leyen (CDU) spricht erst einmal über Steine. "Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen", zitiert die Bundesarbeitsministerin Johann Wolfgang von Goethe. Es ist Freitag früh, kurz nach neun Uhr im Bundestag. Nach zehnwöchigem Tauziehen zwischen Regierung und Opposition soll heute die Hartz-IV-Reform zum Abschluss gebracht werden - und die Ministerin weiß, dass es an diesem Morgen glatt für sie laufen wird. "Wir haben viele Steine im Weg gehabt. Jeder Stein ist jetzt an seinem Platz, und ich bin der festen Überzeugung, wir haben mit dem Bildungspaket etwas richtig Gutes gebaut."
433 Ja-Stimmen
Während sie spricht, werden hinter den Kulissen die Stimmen ausgezählt. Das Ergebnis fällt wie erwartet aus: Eine breite Mehrheit sagt Ja zu der lange umstrittenen Reform. Für die höheren Hartz-IV-Regelsätze und das Bildungspaket stimmen 433 Abgeordnete, 132 stimmen dagegen, zwei enthalten sich. Ebenso wenig überraschend das Ergebnis der gleich darauffolgenden Sondersitzung des Bundesrates: Auch die Länderkammer winkt das Gesetz mit deutlicher Mehrheit durch.
Am Mittwoch zuvor hatte sich der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat auf die letzten Details der Reform verständigt. Demnach sollen die Regelsätze für die 4,7 Millionen erwachsenen Hartz-IV-Empfänger rückwirkend zum 1. Januar um fünf Euro steigen, von 2012 an steigt das Arbeitslosengeld II um weitere drei Euro auf 367 Euro plus die dann ohnehin anstehende Anpassung an die Preis- und Lohnentwicklung. Die zusätzliche Erhöhung des Regelsatzes verteuert die Reform um 230 Millionen auf 530 Millionen Euro. Dazu kommt das Bildungspaket für 2,5 Millionen arme Kinder. Sie bekommen unter anderem Zuschüsse für Vereinsbeiträge, Schul- und Hortessen, Nachhilfestunden, Schülerfahrkarten und Wandertage. Im Laufe der Verhandlungen verteuerte sich die Leistungen für Kinder auf 1,6 Milliarden Euro, etwa dadurch, dass nun auch Kinder von Wohngeldempfängern davon profitieren. Geplant sind auch Branchenmindestlöhne für die Zeitarbeit, das Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der Weiterbildung.
Bis zuletzt hatten die Verhandlungsführer von Union, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen erbittert um einen Kompromiss gerungen. Weil die Grünen die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelsätze bezweifeln, waren sie kurz vor dem Ende aus den Verhandlungen ausgestiegen und stimmten dem Paket im Bundestag auch nicht zu.
Es knirscht weiter
Trotz der Einigung war die Debatte im Plenum nach der Rede von der Leyens von gegenseitiger Kritik und Vorwürfen geprägt. Die Ministerin wies die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Hartz-IV-Reform zurück. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das die Politik zur Neuberechnung der Sätze aufgefordert hatte, habe eben nicht die Höhe der Regelsätze angeprangert, sondern die Intransparenz der Berechnungen. "Das haben wir korrigiert und dazu können wir jetzt stehen", sagte die Ministerin.
Hauptgewinner der Reform sind für sie die Kinder und die Kommunen. Am Ende habe "die Allianz der Vernünftigen" dies möglich gemacht, sagte sie in Richtung SPD. Bei großen sozialen Reformen sei es richtig, einen breiten Konsens herzustellen. Den Grünen warf von der Leyen vor, mit ihrer Haltung ihrem Ruf als "Dagegen-Partei" alle Ehre gemacht zu haben.
SPD-Verhandlungsführerin Manuela Schwesig, zeigte sich zufrieden mit dem Kompromiss. "Am Ende hat es sich gelohnt", sagte die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern. Sie reklamierte große Verhandlungserfolge der SPD, die drei Verbesserungen am ursprünglichen Regierungsentwurf erreicht hätte: Aus dem Bildungspäckchen sei ein Paket geworden, es gebe Fortschritte beim Mindestlohn und beim Regelsatz habe die SPD Korrekturen erreicht. Zugleich betonte Schwesig, dass die Reform nicht ausreiche, um Armut in Deutschland zu bekämpfen und die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. "Sozialpolitische Geschichte wird hier heute nicht geschrieben", sagte sie.
FDP-Verhandlungsführer Heinrich Kolb beschied Schwesig daraufhin, eine "siebenminütige Meckerrede" gehalten zu haben, was die aus dem Saal eilende Kollegin nur noch im Herausgehen hörte, da sie sich auf den Weg in den Bundesrat machen musste. Der stellvertretende Fraktionschef der Grünen, Fritz Kuhn, sprach von einem verfassungswidrigen Gesetz, beim Regelsatz sei "nach unten arm gerechnet" worden.
Auch die Linksfraktion hält die neuen Regelsätze für angreifbar. Auf dem Rücken der Ärmsten hätten sich Union, FDP und SPD auf ein "verfassungswidriges Gesetz" verständigt, sagte Fraktionschef Gregor Gysi. Der Rechtsstaat sei dadurch beschädigt worden.