Traditionslinien mit Brüchen
GESCHICHTE Von der Paulskirche bis zur NS-Zeit: Erstarken und Erosion der demokratischen Kräfte
Heute können wir uns ein politisches Leben ohne Parteien nicht mehr vorstellen, eine parlamentarische Demokratie würde ohne sie nicht funktionieren. Tatsächlich ist die Entstehung der Parteien mit der Geschichte des Parlamentarismus eng verknüpft, die mit dem Ende Napoleons beginnt.
Zum Erbe der Französischen Revolution gehörte die Auseinandersetzung mit konkurrierenden politischen Ideen, etwa dem Ruf nach Freiheit und Gleichheit. Daraus entstanden politische Bewegungen und Engagement mündete in Parteinahme. Gleichgesinnte taten sich zusammen, gruppierten sich oftmals um Zeitschriften. Die Konservativen scharten sich in Preußen um die "Neue Preußische Zeitung", nach einer Vignette des Eisernen Kreuzes im Kopf des Titelblattes allgemein "Kreuzzeitung" genannt. Die "Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" waren das wichtigste Organ der Katholiken und die "Rheinische Zeitung" und mehr noch das Nachfolgeblatt, die "Neue Rheinische Zeitung" mit dem Chefredakteur Karl Marx war das Sprachrohr der Radikalen.
Erstmals Fraktionen
Die Parteien bildeten sich in Deutschland später aus als in England oder Frankreich - zuerst in den süddeutschen Ländern Baden, Württemberg und Bayern -, aber bis 1918 waren sie von der Regierungsgewalt ausgeschlossen. Die Revolution von 1848 war der Versuch, auch in Deutschland eine parlamentarische Verfassung zu etablieren. Im Paulskirchenparlament formierten sich erstmals Fraktionen, die sich aus gewählten Einzelpersönlichkeiten zusammensetzten und nach ihren Versammlungsorten benannt wurden. Das Spektrum reichte von den Konservativen im Café Milani bis zu den Radikalen im Hotel Donnersberg. Die noch weiter rechts stehenden Hochkonservativen, deren Sprachrohr die "Kreuzzeitung" war und die enge Verbindungen zu den Höfen und zum Militär unterhielten, wirkten an der Nationalversammlung in der Paulskirche nicht mit. Sie hielten es mit dem Motto "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten".
Die Nationalversammlung scheiterte an der Weigerung von Preußens König Friedrich Wilhelm IV., die ihm angetragene Kaiserwürde anzunehmen. Dennoch hatte dieses erste gesamtdeutsche, demokratisch legitimierte Parlament weitreichende Folgen. Die Reichsverfassung von 1849 prägte die Weimarer Verfassung von 1919 und 30 Jahre später auch das Bonner Grundgesetz.
Das Parlament in der Paulskirche ähnelte in seiner Struktur erstaunlich dem heutigen Bundestag. Es war dominiert von der Berufsgruppe der Beamten. Mehr als 600 der 812 Abgeordneten hatten studiert, die meisten waren Juristen. Angehörige der unteren Schichten waren kaum vertreten. Die vier politischen Grundströmungen, die schon im Revolutionsjahr 1848 aufgetreten waren - Konservative, Liberale, Katholiken und Sozialisten -, blieben prägend für die deutsche Politik bis 1933.
In den 1860er Jahren kam es erstmals zur Gründung regulärer Parteien. Den Anfang machten die Liberalen mit der Deutschen Fortschrittspartei im Jahr 1861. 1Sechs Jahre später spalteten sich die Nationalliberalen von ihr ab, die Bismarcks Regieren ohne reguläres Budget im Nachhinein gemeinsam mit den Konservativen im preußischen Landtag gebilligt hatten. Die erwachende Nation war ihnen wichtiger als die Verfassung. Die Konservativen waren zunächst im Preußischen Volksverein organisiert, aber auch hier gab es eine Spaltung in die liberaleren Freikonservativen und die Deutschkonservativen. Die Katholiken gründeten 1870 die Zentrumspartei, die, abgesehen von der Verselbstständigung der Bayerischen Volkspartei nach dem Ersten Weltkrieg, bis 1933 unverändert bestehen blieb. Aus der Bewegung der sozialistischen Arbeitervereine ging der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) hervor, der am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründet wurde. Auf dieses Datum beruft sich die SPD, wenn sie in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen feiert. Der maßgeblich von Ferdinand Lassalle geprägte ADAV und die 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei vereinigten sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei.
SPD benachteiligt
1871 war das Deutsche Reich gegründet worden. Die Regierung, vom Kaiser berufen, war dem Parlament nicht verantwortlich. Dessen wichtigstes Recht war es, den Haushalt zu bewilligen. Die Konservativen und Nationalliberalen, die die Reichsgründung unterstützten, gingen als Sieger aus den ersten Reichstagswahlen hervor. Es waren, anders als in Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen, bei denen alle Männer über 25 Jahren stimmberechtigt waren. Zweitstärkste Fraktion wurde das katholische Zentrum, das zu Reichskanzler Otto von Bismarck, der strikt für die Trennung von Kirche und Staat eintrat, in Opposition stand. Die SPD gewann 3,2 Prozent der Stimmen, aber mit zwei Sitzen nur 0,6 Prozent der Mandate, weil sie durch das Wahlsystem stark benachteiligt war. Es gab ein relatives Mehrheitswahlrecht und die SPD hatte als einzige nichtbürgerliche Partei kaum Bündnispartner bei den Stichwahlen. Außerdem waren die städtischen Wahlkreise, in denen die Arbeiterschaft lebte, viel bevölkerungsreicher als die ländlichen, was die SPD zusätzlich benachteiligte.
Bismarck sah, dass er durch seinen "Kulturkampf" gegen das Zentrum den Katholizismus eher stärkte als schwächte, auch erschien ihm die Sozialdemokratie zunehmend als der gefährlichere Gegner. 1879 vollzog er daher einen Wechsel, als nur ein kleiner Teil der Nationalliberalen bereit war, seine neue Schutzzollpolitik mitzutragen, die vor allem den Interessen der Schwerindustrie und der Großagrarier diente. Fortan stützte sich Bismarck auf die Konservativen und auch auf das Zentrum.
1878 boten zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I., mit denen die Sozialistische Arbeiterpartei nichts zu tun hatte, den Vorwand für das Gesetz "wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Dieses sogenannte Sozialistengesetz führte zum Verbot von Organisationen, Druckschriften und Versammlungen, lediglich die parlamentarische Betätigung blieb erlaubt. Die Sozialdemokratie zu zerschlagen, gelang Bismarck mit dem immer wieder verlängerten Sozialistengesetz nicht. Sie gewann im Gegenteil an Stärke. 1890 wurde die Partei wieder zugelassen, gewann bei den Reichstagswahlen erstmals die meisten Stimmen und nannte sich nun Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Der Anteil von 19,7 Prozent der Stimmen brachte ihr allerdings nur 8,8 Prozent der Mandate ein.
Vorspiel für Hitlers Aufstieg
Bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ende des Kaiserreichs wurde die SPD 1912 nicht nur nach Stimmen (34,8 Prozent), sondern auch nach Mandaten (27,7 Prozent) stärkste Kraft. Auf den zweiten Platz kam das Zentrum, dem 16,4 Prozent der Stimmen 22,9 Prozent der Mandate brachten. Die Liberalen waren gespalten in die eher konservativen Nationalliberalen und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei. Beide Gruppen erreichten nach Stimmen wie nach Mandaten jeweils etwas mehr als zehn Prozent.
Insgesamt hatte es in den Jahren von 1871 bis 1912 eine starke Verschiebung des Wählerverhaltens gegeben. Hatten Konservative und Nationalliberale bei der Reichsgründung zusammen noch 53,1 Prozent der Stimmen erreicht, waren es 1912 mit 25,8 Prozent nicht einmal mehr halb so viele. Die Linksliberalen hatten zugenommen, das Zentrum etwas verloren und die SPD hatte nun den elffachen Stimmenanteil. Die drei Parteien zusammen verfügten 1912 über die Mehrheit im Reichstag. Im Juli 1917 bildeten sie einen Interfraktionellen Ausschuss, der eine Friedensresolution mit dem Ziel eines Verständigungsfriedens einbrachte. Auf der Gegenseite formierte sich die Deutsche Vaterlandspartei als Sammelbewegung aller völkischen, antisemitischen und anti-demokratischen Kräfte. Der Historiker Friedrich Meinecke nannte die Vaterlandspartei "ein genaues Vorspiel für den Aufstieg Adolf Hitlers".
Tatsächlich ist 1917 bereits die politische Konstellation vorhanden, die die Weimarer Republik bis zu ihrem Ende prägen wird. Auf der einen Seite standen das Zentrum, die Liberalen, die 1918 die Deutsche Demokratische Partei (DDP) gründeten, und die SPD, von der sich 1918 die Kommunisten abspalteten. Auf der anderen Seite etablierten sich jene Kräfte, die 1920 mit dem Kapp-Putsch erstmals versuchten, die Weimarer Demokratie zu beseitigen. SPD, Zentrum und DDP, die vor allem den demokratischen Konsens der Weimarer Republik repräsentierten, erreichten bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 zusammen 83,4 Prozent der Stimmen. Bei der Reichstagswahl 1920 sank ihr Anteil auf 67,6 Prozent; im März 1933 betrug er noch 33,6 Prozent.
Dies zeigt überdeutlich den Erosionsprozess der Weimarer Demokratie. Das Zentrum war auf niedrigem Niveau stabil geblieben, die DDP hatte mehr als 90 Prozent ihrer Mandate eingebüßt, die SPD etwa ein Drittel, weil sie viele Wähler an die KPD verloren hatte. Die konservative Deutsche Volkspartei (DVP) und die reaktionäre Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die auch vor einer Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten nicht zurückscheute, hatten massiv an Zustimmung zugunsten der noch radikaleren Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) eingebüßt. Deren demonstrativ gewalttätiges Auftreten verschaffte ihr viel Publizität. Die NSDAP war die erste Partei, die Wähler in allen Teilen des Landes, beiden christlichen Konfessionen und allen Schichten erreichte, wenngleich der Mittelstand überproportional vertreten war und die Arbeiterschaft unterrepräsentiert blieb. Ihr gelang es auch in starkem Maße, Nichtwähler anzusprechen. Bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 wurde sie erstmals mit 37,3 Prozent stärkste Fraktion vor der SPD mit 21,6 Prozent. Die KPD kam auf 14,3 Prozent, sodass die zwei Parteien, die die Demokratie grundsätzlich ablehnten, gemeinsam eine Mehrheit im Reichstag hatten, die jede konstruktive Arbeit unmöglich machte.
Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 fand die Demokratie dann auch formal ein Ende. Nur die SPD verweigerte im Reichstag dieser Selbstentmündigung des Parlaments die Zustimmung - was ihr Vorsitzender Otto Wels in einer dramatischen Rede begründete. Der letzte Satz lautete: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Drei Monate später war die SPD verboten; andere Parteien lösten sich auf, und Mitte Juli wurde der nationalsozialistische Einparteienstaat per Gesetz festgeschrieben.