Im Osten schwindet Einfluß der Regierung aus Kiew
UKRAINE II Mehrere wichtige Städte werden von pro-russischen Kräften kontrolliert. Die Rechnungen des Energielieferanten Gazprom werden zum Problem
Einen Monat vor den geplanten Präsidentschaftswahlen hat die Kiewer Zentralregierung die Kontrolle über zwei Regionen im Osten des Landes verloren: In sechs Städten, darunter die Gebietshauptstädte Donezk und Lugansk, kontrollieren bewaffnete prorussische Aktivisten wichtige Verwaltungsgebäude. Versuche Kiews, die Separatisten zu vertreiben, endeten mit der Entwaffnung und dem Überlaufen der Spezialeinheiten auf die Seite der Aufständischen.
Am Mittwoch erklärte das Innenministerium zwar, Spezialeinheiten hätten die Separatisten kampflos aus Swjatogorsk vertrieben, eine Kleinstadt etwa 30 Kilometer von Slawjansk gelegen. Allerdings berichteten mehrere ausländische Journalisten, dass es in der Stadt weder bewaffnete Separatisten, Barrikaden oder besetzte Gebäude gegeben habe.
Militärmanöver
Am Donnerstag gelang es Spezialeinheiten, mehrere Kontrollpunkte der Aufständischen in Slawjansk zu übernehmen. Dabei starben zwei Aufständische. Allerdings zogen sich die Regierungseinheiten später wieder zurück. Die russische Regierung reagierte demonstrativ mit Militärmanövern an der etwa 200 Kilometer entfernten Grenze.
In den anderen Gebieten des russischsprachigen Südostens kontrolliert die Regierung dagegen die Lage: Zwar versuchten Aktivisten auch in den Großstädten Odessa und Charkow, Gebäude zu besetzen, allerdings konnten Polizeikräfte die Besetzungen schnell beenden. Ein wichtiger Faktor ist zudem die geringe Unterstützung der Separatisten in den meisten Gebieten.
Jüngste Umfragen zeigen zwar, dass die Mehrheit der Menschen im gesamten Südosten die Kiewer Regierung nicht als legitim anerkennt: Laut einer Umfrage des renommierten Kiewer Meinungsforschungsinstituts KMIS sehen mehr als 50 Prozent der Bewohner des Südostens den Interimspräsidenten als nicht legitim an. Besonders groß ist die Ablehnung mit über 70 Prozent jedoch in den Gebieten Lugansk und Donezk. Dort wünschen sich knapp ein Drittel der Menschen den Anschluss an Russland, fast 20 Prozent würden sogar den Einmarsch russischer Truppen unterstützen. In den meisten anderen Regionen liegt die Unterstützung für einen "Anschluss" weit unter zehn Prozent.
Am sichersten sitzt die Regierung derzeit in Dnepropetrowsk im Sattel: Der dortige Gouverneur und Milliardär Igor Kolomojskij gründete Mitte April zudem die Gründung einer Sondereinheit namens "Dnepr". Sein Stellvertreter warnte die pro-russischen Separatisten vor einem "zweiten Stalingrad", sollten sie versuchen, in der Region Gebäude zu besetzen. Auch der "Rechte Sektor" verlegte Ende vergangener Woche sein Hauptquartier in die Industriestadt im Osten der Ukraine. Ihr Anführer Dmitri Jarosch verkündete die Gründung eines Sonderbataillons namens "Donbass", bestehend aus 800 Kämpfern aus der Region Donezk. Die Bildung bewaffneter Bürgerwehren war durch einen Erlass des ukrainischen Innenministers Arsen Awakow vom 13. April ermöglicht worden. Laut Awakow sollen die staatlich sanktionierten Bürgerwehren landesweit bis zu 12.000 Mann stark sein.
In Donezk und Lugansk unterstützen staatliche Vertreter inzwischen öffentlich die Forderungen der Besetzer. Während die Kiewer Zentralregierung bislang nur ein ukraineweites Referendum über eine Föderalisierung des Landes zulassen will, forderte der Donezker Bürgermeister Alexander Lukjantschenko in der vorigen Woche, gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen ein regionales Referendum in Donezk durchzuführen. Die Vertreter der "Donezker Volksrepublik" jedoch haben ein solches Referendum schon für den 11. Mai angekündigt.
Kiew und Washington einerseits und Moskau auf der anderen Seite beschuldigen sich seit dem Genfer Gipfel gegenseitig, die dort getroffenen Vereinbarungen nicht einzuhalten. Öl ins Feuer goss zuletzt der russische Außenminister Sergej Lawrow mit seiner Erklärung, Russland sehe für den Fall, dass "die legitimen Interessen von russischen Staatsbürgern direkt attackiert werden", keinen anderen Weg als "in voller Übereinstimmung mit dem internationalen Recht" zu antworten. Dass Lawrow dabei auf das Beispiel Südossetien verwies, das die russische Armee 2008 besetzte, wertete das ukrainische Außenministerium als "Drohung eines Einsatzes der russischen Armee als Antwort auf die legitime Durchführung von Maßnahmen im Kampf mit terroristischen und separatistischen Aktivitäten in der Ukraine".
Kiew übergab der OSZE Material, das beweisen soll, dass russische Spezialeinheiten hinter den Besetzungen stehen. Allerdings belegen die Fotos dies nicht eindeutig. Die "Time" etwa überprüfte in der vergangenen Woche den Fall eines von Kiew als russischen Agenten präsentierten Kämpfers - und konnte keine direkten Beweise für eine Unterstützung von Seiten des russischen Staates finden.
Ungelöst ist weiterhin die Frage der russischen Gaslieferungen an die Ukraine: Seit April muss die Ukraine dem russsichen Gaslieferanten Gazprom 480 Dollar pro 1.000 Kubikmeter bezahlen, dabei ist der staatliche ukranische Gasmonopolist Naftogaz schon jetzt praktisch zahlungsunfähig: Seine Schulden gegenüber Gazprom sind auf 2,2 Milliarden Dollar gestiegen. Der ukrainische Energieminister Juri Prodan hat Gazprom nun einen Preis von 268,5 Dollar vorgeschlagen - weit unter den üblichen Importpreisen in Europa.
Ein vollkommener Stopp der Gaslieferungen ist für Russland allerdings nicht denkbar: Die Ukraine ist das wichtigste Transitland für Gaslieferungen nach Europa. Die unterirdischen Gasspeicher in der Ukraine, aus denen im Winter das Gas in den Westen gepumpt wird, waren Anfang April nur mit sieben Milliarden Kubikmetern Gas gefüllt - es müssten jedoch 20 Milliarden sein.