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Als Helmut Kohl in die Offensive ging

WAHLKAMPF Nach dem Mauerfall mischte die Bonner Politik im Osten kräftig mit

28.07.2014
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Am 6. November 1989, drei Tage vor dem überraschenden Mauerfall, reiste Alexander Schalck-Golodkowski nach Bonn, um im Auftrag von SED-Generalsekretär Egon Krenz mit der Bundesregierung über Finanzhilfen für die vor der Zahlungsunfähigkeit stehende DDR zu verhandeln. Im Gespräch mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) ersuchte der Chef des sozialistischen Firmenimperiums "Kommerzielle Koordination" (KoKo) um einen Kredit in Höhe von 13 Milliarden D-Mark, ohne den die DDR weder ihre Schulden bedienen noch den geplanten freizügigen Reiseverkehr ihrer Bürger in den Westen würde finanzieren können.

Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) knüpfte indes eine finanzielle Unterstützung Ost-Berlins an Bedingungen, die er bereits am nächsten Tag über Schalck dem SED-Chef übermitteln ließ. Am 8. November machte der Kanzler vor dem Bundestag öffentlich, was er von der DDR-Führung erwartete. "Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren", sagte Kohl. "Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird." Dazu zählten der Verzicht der SED auf ihr Machtmonopol sowie die Zulassung unabhängiger Parteien und freie Wahlen.

Gesang im Bundestag

Das neue Reisegesetz war gerade vom Zentralkomitee der SED beraten worden, da schuf der für die Medien zuständige SED-Funktionär Günter Schabowski durch eine Informationspanne unbeabsichtigt vollendete Tatsachen. Weil er einen Sperrfristvermerk übersehen und bei einer Pressekonferenz am 9. November den Zeitpunkt des Inkrafttretens mit "sofort, unverzüglich" angegeben hatte, setzte er eine Dynamik in Gang, die am späten Abend im Einstellen der Grenzkontrollen endete. Der Mauerfall entfachte beiderseits der Grenze einen Freudentaumel. Als die Bundestagsabgeordneten bei einer Plenarsitzung in Bonn die Nachricht vernahmen, stimmten sie nach Erklärungen der Fraktionschefs spontan die Nationalhymne an.

Bei aller Freude über die neue Freizügigkeit gab es am Rhein auch mahnende Stimmen. FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick, ein gebürtiger Sachse, appellierte an die Deutschen in der DDR: "Alle, die noch schwanken, bitte ich: Bleibt daheim." Das sah Kohl ebenso. In einem Telefongespräch mit Krenz am 11. November versicherte er, es sei nicht sein Ziel, dass möglichst viele Menschen die DDR verließen. Tatsächlich hatten Bund und Länder, vor allem aber grenznahe Kommunen alle Hände voll zu tun, den Besucheransturm von DDR-Bürgern zu bewältigen. Eine durch Destabilisierung der DDR verursachte Massenübersiedlung, so fürchteten westdeutsche Politiker, würde die Bundesrepublik überfordern.

Veränderte Stimmung

Auch nach der Grenzöffnung gingen die seit dem Herbst üblichen Montags-Demonstrationen in vielen Städten der DDR weiter. Hatten zuvor die Menschen auf der Straße an die Adresse der Machthaber "Wir sind das Volk" skandiert, so war - besonders im Süden der DDR - nun immer häufiger "Wir sind ein Volk" zu hören. Die veränderte Stimmung brachte die Bundesregierung in eine schwierige Lage. Einerseits musste der Kanzler auf die immer lauter werdenden Einheitsrufe reagieren. "Ihr steht nicht allein. Wir gehören zusammen", rief er auf einer CDU-Veranstaltung in Berlin den Menschen in der DDR zu. Andererseits war ihm bewusst, dass es bei den europäischen Nachbarn, vor allem in England und Frankreich, starke Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung gab. Und auch in Moskau beobachtete man die Entwicklung mit Misstrauen.

Deshalb war Kohls engster außenpolitischer Berater, Horst Teltschik, überrascht, als ein Abgesandter des Kremls bei einem Besuch am 21. November im Bonner Kanzleramt sagte, er könne sich vorstellen, dass die Sowjetunion mittelfristig einer wie immer gearteten deutschen Konföderation grünes Licht geben könnte. Er sei wie elektrisiert gewesen, schreibt Teltschik in seinen Erinnerungen. Denn sein Gesprächspartner Nikolai Portugalow, der die außenpolitische Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU leitete, war ihm von vielen Treffen bekannt und galt als vertrauenswürdig. Teltschik riet dem Kanzler zur deutschlandpolitischen Offensive. Wenn schon Kreml-Chef Michail Gorbatschow und seine Berater über die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung diskutierten, dann könne man dies in Bonn nicht länger im stillen Kämmerlein tun.

Zehn-Punkte-Plan

Der Kanzler stimmte Teltschik zu. Im Kanzleramt entstand ein Konzept, das einen gangbaren Weg zur deutschen Einheit aufzeigte. Der Zehn-Punkte-Plan, den Kohl am 28. November im Bundestag vorstellte, sah unter anderem die "Entwicklung konföderativer Strukturen mit dem Ziel einer bundesstaatlichen Ordnung" sowie die "Einbettung der innerdeutschen Beziehungen in den gesamteuropäischen Prozess" vor. Zum Schluss hieß es, mit dem Programm wolle man auf einen Frieden in Europa hinwirken, "in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann".

Am 19. Dezember flog der Kanzler zu einem Treffen mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED) nach Dresden. Dessen Forderung nach einem milliardenschweren "Lastenausgleich" für die DDR lehnte Kohl ab. Vereinbart wurden jedoch Verhandlungen zur Bildung einer Vertragsgemeinschaft, wie sie Modrow vorgeschlagen hatte, sowie die Öffnung des Brandenburger Tores in Berlin zu Weihnachten. Die von Kohl angeregte Konföderation sah Modrow vorerst nicht auf der Tagesordnung.

Schon auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel war der Kanzler von Dresdnern, die in dichten Reihen am Straßenrand standen, bejubelt worden. Nach den offiziellen Gesprächen und einer Pressekonferenz ging Kohl zum Neumarkt, wo vor der damaligen Ruine der Frauenkirche ein Podium errichtet worden war. Zehntausende Menschen hatten sich zu einer Kundgebung versammelt. Sie empfingen ihn mit einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer, riefen "Helmut, Helmut", "Deutschland einig Vaterland" und "Wir sind ein Volk." Der Gast aus Bonn sprach frei, in seiner Wortwahl vorsichtig und diplomatisch. Er würdigte die großen Umwälzungen, dämpfte die Hoffnung auf schnell zu erzielende Ergebnisse, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sein Ziel die Einheit der Nation bleibe. Sichtlich gerührt beendete er seine Rede mit dem Satz: "Gott segne unser deutsches Vaterland."

Neue Etappe

Seine Eindrücke in Dresden markierten für Kohl eine neue Etappe in der Deutschlandpolitik. Dort hatte er noch Modrows Wunsch beigepflichtet, keinen Wahlkampf im jeweils anderen Staat zu machen. Tatsächlich aber wirkten die West-Parteien nun bei der Auseinandersetzung um die Sitzverteilung in der am 18. März 1990 frei zu wählenden Volkskammer kräftig mit. Zunächst unterstützten sie die ihnen politisch nahe stehenden Ost-Parteien, Vereinigungen und Wahlbündnisse mit Geld und Material, schickten dann Helfer und Berater und überschwemmten schließlich die DDR mit Millionen Flugblättern und Plakaten.

Kohl trieb die Einmischung noch weiter. Am 5. Februar präsentierte er im Gästehaus der Bundesregierung in West-Berlin die Gründung der "Allianz für Deutschland", ein Zweckbündnis aus Ost-CDU, Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU). Auch Sozialdemokraten und Liberale wurden von ihren westdeutschen Schwesterparteien unterstützt. Die Grüne Partei lehnte sich an ihre westliche Partnerpartei an. Die Wahlplattform "Bündnis 90", gegründet von Mitgliedern des "Neuen Forums", von "Demokratie Jetzt" und der "Initiative für Frieden und Menschenrechte", kooperierte erst nach der Wahl mit den Grünen. Die in PDS umbenannte SED stand von vornherein allein.

Abfuhr für Modrow

Um in der nationalen Debatte nicht den Anschluss zu verlieren, präsentierte Modrow am 1. Februar unter dem Titel "Für Deutschland, einig Vaterland" einen Stufenplan, der von der Vertragsgemeinschaft über die Föderation bis zu einem Deutschen Bund unter Wahrung militärischer Neutralität führen sollte. In Bonn stieß der Vorschlag auf wenig Gegenliebe. Dass die Bundesregierung die SED-Nachfolger als Regierungspartei bereits abgeschrieben hatte, erfuhr Modrow bei seinem Besuch am 13. Februar in Bonn. Seine Bitte um eine Soforthilfe von bis zu 15 Milliarden D-Mark wies Kohl brüsk zurück.

Obwohl der "Zentrale Runde Tisch" (siehe Seite 11) in Ost-Berlin die West-Politiker zur Zurückhaltung ermahnt hatte, agierten diese im DDR-Wahlkampf wie auf heimatlichem Territorium. Willy Brandt, den die ostdeutschen Sozialdemokraten zum Ehrenvorsitzenden wählten, mobilisierte bei seinen Auftritten Zehntausende. Kohl begeisterte bei seinen Kundgebungen insgesamt mehr als eine Million DDR-Bürger. Heimische Kandidaten wirkten dagegen oft wie Statisten. Bonner Politiker und ihre Positionen gaben den Ausschlag. Der "Einheitskanzler" Kohl bescherte der "Allianz für Deutschland" mit 40,8 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg. Die SPD landete mit knapp 22 Prozent auf Platz zwei, gefolgt von der PDS mit 16,3 Prozent. Das "Bündnis 90" der Bürgerrechtsbewegungen bekam nur 2,9 Prozent. Was das für die künftige DDR-Regierung bedeutete, erklärte die frisch gewählte "Bündnis 90"-Abgeordnete Marianne Birthler mit dem Satz: "Jetzt ist Kohl unser Chef."