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ERSTER WELTKRIEG  : Vom Burgfrieden zum Umsturz

Trotz aller Unwägbarkeiten und Zerrüttungen kam der Parlamentarismus voran, doch zu spät

15.09.2014
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Die Bilder gehören längst zur historischen Ikonographie: Die dicht gedrängte Menschenmenge auf dem Berliner Schloßplatz, die dem Kaiser auf dem fernen Balkon jubelnd applaudiert; die Gruppen junger Männer, die ihre Arme, teilweise mit weißen Strohhüten, begeistert in die Höhe recken und im Freudentaumel die Prachtstraße Unter den Linden erobern; die geschmückten und mit feurigen Parolen bemalten Eisenbahnwaggons („Ist Frankreich erledigt, wird den Russen gepredigt!“), aus deren geöffneten Fenstern fröhliche Soldaten mit ihren Mützen und Kappen winken, als führen sie zu einem fröhlichen Betriebsausflug; die gesitteten Damen, die feschen Jünglingen im Feldgrau hübsche Blumensträußchen an die Uniformbrust heften.

Es sind Fotos jener euphorischen Wochen, als Kaiser-Deutschland 1914 in den Krieg zog. Als kollektives „Augusterlebnis“ werden sie in den Geschichtsbüchern notiert. Die „verspätete Nation“ erging sich in einer suggestiven Stimmung freudig-martialischer Hybris. Doch die wirkungsmächtigen Jubelbilder sind das Resultat einer damals schon emsigen, aber manipulativen Kriegspropaganda. Ganz so emphatisch war die Seelenlage nämlich nicht. In den letzten Juli-Tagen hatten Hunderttausende in vielen deutschen Städten gegen einen Krieg demonstriert. Nach den Kriegserklärungen gegenüber Russland und Frankreich in den ersten August-Tagen 1914 verstärkten sich die gespaltenen Gefühle. Dem Enthusiasmus bei den maßgebenden Elitegruppierungen wie Adel und Militär und dem arrivierten Bürgertum standen Skepsis, ja sogar Verzweiflung in den Arbeiterschichten und der Landbevölkerung gegenüber, in der Erwartung der kommenden Belastungen.

Unheilvolle Sätze Dennoch gelang es, durch die höchst dramatische Beschwörung der Bedrohung von außen die Konsensbrücke nach innen zu schlagen. Als Wilhelm II. am 4. August die Mitglieder des Reichstags zur Thronrede im Weißen Saal des Berliner Schlosses empfing, bezeichnete der Monarch den Krieg als „Ergebnis eines seit Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches“. Und dann fielen jene unheilvollen, weil zweideutigen Sätze: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche.“

Doch die Mystifikation reichte. Als Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wenige Stunden später um die Bewilligung der Kriegskredite warb, benutzte er den Begriff des Verteidigungskrieges: „Wir sind jetzt in der Notwehr; und Notwehr kennt kein Gebot!“ Die Zustimmung der konservativen und bürgerlichen Parteien war selbstverständlich. Aber auch die Sozialdemokraten, jahrzehntelang als „vaterlandslose Gesellen“ geächtet, inzwischen jedoch mit 34,8 Prozent stärkste Partei im Reichstag, gaben ihr Einverständnis. „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Volk nicht im Stich“, begründete Hugo Haase, Mit-Vorsitzender der SPD, das positive Votum seiner Fraktion. So wurde offiziell die Politik des „Burgfriedens“ besiegelt. Die Absicht war klar: Das brüchige Herrschaftssystem mit seinen festgefügten sozialen Hierarchien sollte durch den Krieg stabilisiert werden. Mit Argwohn und Sorge hatten Konservative und Rechte den Aufstieg von Sozialdemokraten und Linksliberalen verfolgt. Damit verbanden sich Demokratisierung und Parlamentarisierung, infektiöse Bedrohungen für das autoritäre Gefüge. Die Sozialdemokraten nunmehr in den „Burgfrieden“ eingebunden zu haben, und dies ohne Reformkonzessionen: Das bedeutete bei Kriegsbeginn eine enorme strategische Dreingabe für die alten Protagonisten.

Der politische Gleichklang erhielt bald einen gedanklichen Überbau mit den „Ideen von 1914“, ein Begriff, der auf den Münsteraner Staatswissenschaftler Johann Plenge zurückzuführen ist. Die inhaltlichen Versatzstücke bildeten Einheit der Nation, deutsche Freiheit, Ordnung und Pflichterfüllung, Gleichheit und Kameradschaftlichkeit. Auch Formeln wie nationaler Sozialismus und Volksgemeinschaft tauchten auf. Vor allem aber verstanden sich die „Ideen von 1914“ als Gegenentwurf zu den Ideen von 1789, den Idealen der Französischen Revolution mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der Unterschied von westlicher Zivilisation und deutscher Kultur, von jeher eine zweckmäßige Unterfütterung des politischen Sonderwegs, avancierte wieder zum bewussten Kristallisationspunkt.

Erstaunlich und deprimierend zugleich, wie sich nicht nur die traditionellen Eliten, sondern auch Scharen von Intellektuellen,Wissenschaftlern, Künstlern in den Dienst dieser Sache stellten, zumeist verbunden mit bornierter Kriegsverherrlichung. Über 4.000 Hochschullehrer glaubten, dass „für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt“. Max Weber schwärmte vom „großen wunderbaren Krieg“, Thomas Mann steigerte sich zur „Reinigung“. Die Franzosen als Volk der Dekadenz und Arroganz, die Engländer als Händler und Krämer, die Russen in der Finsternis der zaristischen Despotie – so der Tenor. Und über allem Germania superbia. Wer Friedrich August von Kaulbachs überlebensgroßes Bild der kriegsbewehrten Walküre mit dem Titel „Deutschland – August 1914“ betrachtet, augenblicklich im Deutschen Historischen Museum zu Berlin ausgestellt, bekommt von dieser Überheblichkeit einen Eindruck.

In diesem zwanghaften „Burgfrieden“ war kein Platz für politische und soziale Reformkonzepte. Demokratie wurde als Chaos und Anarchie diskriminiert, der preußisch-deutsche Militarismus, einer der fatalen Ursachen des Kriegsausbruchs, als adäquate Organisationsform bei der Umstellung auf die Kriegswirtschaft, ja sogar für die Ordnung der ganzen Gesellschaft betrachtet. Zugleich nahmen die Kriegszieldiskussionen immer weiter ausgreifende Vorstellungen und Forderungen an, im Westen wie im Osten, der deutsche Hegemonialanspruch in Europa sollte unumstößlich festgeschrieben werden. Das wilhelminische Kaiserreich träumte sich eine ignorante Selbstvermessenheit.

Erst die zermürbenden Stellungskriege, mit Hunderttausenden von Toten und Verwundeten, die erfolglosen Abnutzungsstrategien, mit dem Einsatz immer ruinöserer Waffen wie Gas, U-Boote, Flugzeuge, Tanks, bringen 1916 die Diskussionen um innere Reformen wieder in Gang. Zumal da die Heimatgesellschaften den sich abzeichnenden totalen Krieg direkt zu spüren bekommen: Entbehrung und Not, Mangel und Zwang ziehen tiefe Spuren, Hungerrevolten und Streiks sorgen für Unruhe. Der sprichwörtliche „Steckrübenwinter“ 1916/17 ist dafür ein oft zitiertes Beispiel. Das Terrain des „Burgfriedens“ erodiert. Unter dem niederschmetternden Kriegsgeschehen, draußen wie drinnen, bricht nun „das Modernisierungsdilemma des wachsenden Abstands zwischen beschleunigter sozialökonomischer Entwicklung und erstarrtem politischen Ordnungsgefüge“ mit aller Wucht durch, das der Historiker Hans-Ulrich Wehler als „das“ Kennzeichen des spät-wilhelminischen Kaiserreiches bezeichnet hat.

Neue Ideen Die Kritik an der überkommenen Gesellschaftskonstellation durchdringt mehr und mehr die Öffentlichkeit. Max Weber, inzwischen von seinen nationalistischen Leitbildern abgerückt, proklamiert im Herbst 1916 seine „Ideen von 1917“ als Gegenstück zu den „Ideen von 1914“: Beseitigung des „persönlichen Regiments“ Wilhelm II., Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, Parlamentarisierung des politischen Systems und Föderalisierung des Reiches. Aufgeklärte Geister wie Albert Einstein und Max Planck äußern sich ebenfalls zunehmend skeptisch. Im Mai 1917 beginnen auch im Reichstag Beratungen über Verfassungsreformen.

In dieser Stimmungslage wagt der Zentrumsabgeordnete Mathias Erzberger, früher ebenfalls strenggläubiger Nationalist, einen mutigen Vorstoß. Im Hauptausschuß des Reichstages brandmarkt er die Fehlleistungen der Reichsleitung, vor allem den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, gleichzeitig rügt er Kriegsdauer und Ernährungslage. Über Erzbergers Rede formiert sich ein Interfraktioneller Ausschuss aus Sozialdemokraten, katholischem Zentrum und liberaler Fortschrittspartei. Der Ausschuss bringt eine „Friedensresolution“ zustande, die am 19. Juli im Reichstag mit 214 gegen 116 bei 17 Enthaltungen angenommen wird. Darin heißt es: „Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker. Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar.“

Die neue Mitte-Links-Mehrheit – es sind genau die Parteien der späteren „Weimarer Koalition“ – setzte sich damit bewusst gegen Reichsleitung und Militärführung. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard nennt daher diesen Akt „eine Wegscheide des deutschen Parlamentarismus“, sein Kollege Ulrich Herbert spricht von einer „Zäsur“. Wenn dies dennoch nicht konsequent zur Parlamentarisierung der Monarchie führte, dann lag es an dem extremen Beharrungsvermögen und der enormen Machtkonzentration bei den einflussreichen Autoritäten.

Mit der Ernennung der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) unter Führung von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff Ende August 1916 hatten die alten Cliquen eine traumhafte Vorgabe erhalten. Denn die beiden Kommandeure, der eine als populäre Galionsfigur, der andere als reaktionärer Einflüsterer, setzten rücksichtslos den Primat der Militärs vor dem der Politik durch. Das „Hindenburg-Programm“ zur Forcierung der Kriegswirtschaft und das „Hilfsdienstgesetz“, das alle männlichen Deutschen zwischen 17 und 60 Jahren zur Arbeitspflicht zwang, waren die adäquaten Instrumente. Mit ihrer faktischen Militärdiktatur, bei der sogar der Kaiser an den Rand gedrängt wurde, verschärften sie die innenpolitischen Konfrontationen. Mitte 1917 betrieb die OHL den Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, von den Nationalisten schon lange als „Flaumacher“ diffamiert. Durch die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei, eine Reaktion der Konservativen und Rechten auf die „Friedensresolution“ der neuen Reichstagsmehrheit, entstand eine willige Propaganda-Organisation für die unverbesserlichen „Siegfrieden“-Losungen und die immer ausgreifenderen annexionistischen Kriegsziele.

Bei diesem aufgeladenen Klima kam es für die Reform des Wahlrechts und des Steuersystems zu einer langen Hängepartie. Auch die Sozialdemokraten, in ihrer „Burgfrieden“-Politik gefangen, scheuten eine eindeutige Kurskorrektur – um den Preis der inneren Spaltung. Die Mehrheit der Reichstagsfraktion grenzte die Kriegsgegner aus ihren Reihen aus, so dass es im April 1917 zur Gründung der USPD kam. Die damalige Spaltung der Arbeiterbewegung, eine tragische Hypothek der Weimarer Republik, wirkt bis heute nach.

Eine Möglichkeit zur Änderung der inneren Herrschaftsstrukturen ergab sich erst, als es eigentlich schon zu spät war. Die militärischen Erfolge der deutschen Heeresleitung im Osten in den Wirrnissen von Lenins Oktoberrevolution und der „Diktatfrieden“ von Brest-Litowsk bildeten nur eine trügerische Atempause. An der Westfront wurde die Lage immer aussichtsloser, es kam zu massenhaften Absetzbewegungen der Soldaten. Den völlige Zusammenbruch vor Augen, forderten Hindenburg und Ludendorff Ende September 1918 die Reichsregierung ultimativ auf, innerhalb weniger Tage Waffenstillstandssondierungen auf der Grundlage des 14-Punkte-Programms des US-Präsidenten Wilson aufzunehmen, um günstige Bedingungen für einen Friedensvertrag herauszuholen. Zudem sollte eine Parlamentarisierung der Berliner Regierung zügig umgesetzt werden, mit Vertretern der neuen Mehrheitsparteien im Kabinett. „Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe essen, die sie uns eingebrockt haben!“, erläuterte Ludendorff. Das gedankliche Rüstzeug für die spätere bösartige „Dolchstoßlegende“, dass nämlich die Truppen an der Front unbesiegt blieben, während die Heimatfront ihnen in den Rücken fiel, wurde beizeiten zynisch zurecht gelegt – und damit die Diffamierung der Demokratie früh grundiert.

Als Ende Oktober 1918 unter Prinz Max von Baden, dem ersten parlamentarisch legitimierten, aber zugleich letzten Kanzler des Kaiserreichs, die Verfassungsreformen in Kraft traten, natürlich im konstitutionellen Rahmen, waren sie von den Realitäten längst überholt. Massenstreiks hatten seit Monaten das Land aufgewühlt. Die Meutereien der Marine, von Kiel ausgehend, breiteten sich schnell aus, die Aufruhr griff auf andere Großstädte über, Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die Macht. Anfang November erreichte die Welle Berlin, Revolution lag in der Luft. Am 9.November verkündete Max von Baden den Rücktritt des Kaisers, ohne Einwilligung Wilhelms II., und übergab die Regierungsgeschäfte an den Vorsitzenden der Mehrheitssozialdemokraten, Friedrich Ebert. Sein Parteigenosse Scheidemann rief die „Deutsche Republik“ aus, der Linke Karl Liebknecht die „Sozialistische Republik“. In einem matten Umsturz, ganz anders als in Russland, ging die Preußen-Monarchie aus falschem Glanz und mit illusorischen Ambitionen unter – und in dem fast lautlosen Zusammenbruch äußerten sich die erschöpften Bizarrerien dieses überkommenen Relikts.

Fragwürdiges Flickwerk Gewiss, die längst überfällige Demokratisierung und Parlamentarisierung des anachronistischen Herrschaftssystems geriet zuletzt zu einem fragwürdigen Flickwerk: zu zögerlich, zu unzulänglich, zu spät. Dennoch ergab sich aus den fehlgeschlagenen Reformbemühungen ein keineswegs belangloser Aspekt. Die Kooperation von Sozialdemokraten, Zentrumsleuten und Linksliberalen im Interfraktionellen Ausschuss war gleichsam Vorschule für Regierungsverantwortung. Sie bestand eine respektable Bewährungsprobe, als in Berlin die Revolution auf der Straße lag. Denn diese Parteien füllten nun das plötzliche Vakuum.

Ohne die vorherige zähe Diskussionsprozedur im Reichstag, zu der auch Einübung von Kompromisssuche gehörte, wäre wohl das umstürzlerische Potenzial im November 1918 weit brutaler und destruktiver durchgebrochen. Im Chaos des gesellschaftlichen und strukturellen Zerfalls im Deutschland des Übergangs bildete dies eine einmalige Chance für einen Neuanfang. Dass diese Konstellation nicht dauerhaft bestand, sondern bei der Reichstagswahl 1920 unterging, zählt zu den tragischen Ursachen für das Scheitern der Demokratie von Weimar. Heinz Verfürth

Der Autor ist Freier Journalist in Berlin.