UKRAINE : Inakzeptable Positionen
Der Streit um die Wahlen in der Ostukraine gefährdet den Friedensprozess
Acht Monate nach der Maidanrevolution hat die Ukraine den entscheidenden Schritt zur Legitimation des politischen Systems getan: Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai folgten nun die Parlamentswahlen. Das Ergebnis: Es haben jene Kräfte gesiegt, die einen prowestlichen und gleichzeitig kompromissbereiten Kurs gegenüber dem Osten des Landes vertreten. Diesen Kurs propagiert Präsident Petro Poroschenko, dessen Partei mit 132 Abgeordneten stärkste Kraft im neuen Parlament ist, gefolgt von der „Volksfront“ des heutigen Premierministers Arsenij Jazenjuk mit 82 Sitzen.
Poroschenko, Jazenjuk und die aus 33 Parlamentariern bestehende Fraktion des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadowyj werden wohl eine stabile Koalition bilden. Zusammen würden die drei Parteien auf eine stabile Mehrheit in der 423 Mitglieder zählenden Rada kommen.
Stärker als erwartet sind die Kräfte aus den Wahlen hervorgegangen, die bis zum Februar Präsident Wiktor Janukowitsch unterstützten. Offiziell kommt der aus der „Partei der Regionen“ entstandene „Oppositionelle Block“ zwar nur auf 29 Plätze. Allerdings holten ehemalige Mitglieder der Regierungsfraktion knapp 70 Direktmandate, insbesondere im Südosten des Landes. De facto stellen diese also die zweitstärkste Kraft im Parlament.
Mit einer stabilen Koalition, über deren Programm und Zusammensetzung derzeit verhandelt wird, könnte Poroschenko endlich die dringend nötigen Reformen angehen, die ukrainische Politiker seit dem Sieg des Maidans versprechen. Wichtigste Bedingung dafür ist allerdings, dass der territoriale Konflikt im Osten des Landes so „eingefroren“ bleibt, wie er seit den Minsker Vereinbarungen vom September erscheint. Zwar verging seitdem an den Fronten der von den Separatisten kontrollierten Gebiete kein Tag ohne lokale Kämpfe. Größere Offensiven waren jedoch von keiner Seite zu verzeichnen. Heftig gekämpft wird seit Wochen um den Flughafen der Stadt Donezk.
Wahlen im Osten Eine Woche nach den Kiewer Wahlen führten die Separatisten ihre eigenen Wahlen durch – und stellten damit den gesamten Deeskalationsprozess infrage: Denn in den Minsker Vereinbarungen ist festgeschrieben, dass es in den abtrünnigen Gebieten zwar Neuwahlen geben sollte, allerdings nach den Gesetzen der Ukraine. Kiew hatte diese für Anfang Dezember angekündigt. Wahlsieger Alexander Sachartschenko zeigte sich nach dem Urnengang gesprächsbereit gegenüber Kiew. Allerdings vertritt Sachartschenko Positionen, die für Kiew nicht akzeptabel sind: So erhebt er neben den von den Separatisten kontrollierten Gebieten Anspruch auf das gesamte Donezker Gebiet.
Kiew weigert sich, überhaupt in Verhandlungen mit den nun gewählten Separatistenführern zu treten. Jazenjuk etwa erklärte, Kiew akzeptiere nur Verhandlungen im „Genfer Format“, also unter Beteiligung der Ukraine, Russlands, der USA und der Europäischen Union.
Am Tag nach den Wahlen in Donezk und Lugansk äußerte sich Poroschenko in einer Rede an die Nation betont aggressiv: „Die Banditen, Terroristen und Eindringlinge können sich zu Abgeordneten, Premiers oder Ministern krönen. Aber sie bleiben Besatzer, Diebe und Rebellen.“ Poroschenko drohte zudem damit, das erst vor kurzem angenommene Gesetz über den Sonderstatus der Gebiete im Osten wieder aufzuheben.
Kiew verfolgt gegenüber den abtrünnigen „Volksrepubliken“ offenbar eine Strategie der Zermürbung. Das geht aus einem Wahlkampfauftritt von Poroschenko im Oktober in Odessa hervor. Dort sagte der Präsident: „Wir werden Arbeit haben, und sie nicht. Wir werden Renten haben, und sie nicht. Bei uns werden die Kinder in die Schule gehen, und bei ihnen werden sie weiter in den Kellern sitzen. So gewinnen wir diesen Krieg.“
Kurz nach den Wahlen in den Volksrepubliken erklärte Premierminister Jazenjuk, die Rentner in den besetzten Gebieten würden erst nach Ende der „Antiterroristischen Operation“ wieder ihre Pensionen erhalten. Gleichzeitig führt Kiew jedoch direkte Verhandlungen mit Bergwerken im Donbass über den Einkauf von Kohle, die es dringend für die eigenen Heizkraftwerke benötigt. Auch die Versorgung der Republiken mit Gas und Strom will Kiew nicht einstellen.
Eine neuerliche militärische Eskalation ist indes nicht ausgeschlossen. Anfang November sichteten westliche Reporter in der Nähe von Donezk eine nicht markierte Kolonne aus über 60 Militärlastwagen und Raketenwerfersystemen, die möglicherweise über die nicht mehr von den Ukrainern kontrollierte Grenze zu Russland in die Volksrepubliken gelangt ist. Als Antwort erklärte die ukrainische Regierung, ihre Truppen rund um das Gebiet zu verstärken. „Solange die Grenze nicht klar gezogen ist, kann jede Seite den Konflikt jederzeit von neuem beginnen“, erklärt der russische Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow. „Russland kann jedoch eine militärische Niederlage der Republiken nicht zulassen, deshalb wird es indirekte oder direkte militärische Unterstützung erweisen.“
Vorsichtige Strategie Inwieweit der Kreml die Republiken steuern kann, ist jedoch umstritten. Die nun gewählten Führer, insbesondere der Donezker Premier Alexander Sachartschenko, sind zwar schwächere Figuren als etwa der im August nach Russland zurückgekehrte Feldkommandeur Igor Strelkow. „Doch es hat sich herausgestellt, dass Moskau nicht einfach anordnen kann ‚Zieht euch aus diesem Ort zurück‘, und alle gehen“, urteilt der Moskauer Politologe Alexej Makarkin.
Moskau verfolgt – auch aufgrund einer drohenden Ausweitung der westlichen Sanktionen – eine vorsichtige Strategie im Hinblick auf die Republiken. So hat Russland bislang die Souveränität von Donezk und Lugansk nicht anerkannt. Auch die jetzigen Wahlen kommentierte Moskau eher zurückhaltend: „Wir respektieren die Willensbekundung der Bewohner des Südostens“, hieß es in einer Erklärung des Außenministeriums. Die Namen der Volksrepubliken werden darin nicht einmal erwähnt.
D er Autor berichtet als freier Journalist aus Russland und der Ukraine.