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Helmut Kohl : Die Zeichen der Zeit erkannt

Der langjährige politische Weggefährte Rudolf Seiters würdigt den »Kanzler der Einheit« zum 85. Geburtstag

30.03.2015
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7 Min

Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl wird am 3. April 85 Jahre alt. Zu seinem 75. Geburtstag hat seine Amtsnachfolgerin Angela Merkel im April 2005 in Berlin gesagt: „Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, Vertiefung der Einheit Europas, Wiederherstellung der Deutschen Einheit: das sind Leuchttürme Kohlscher Politik. Und ihre Bausteine waren Freundschaft mit Frankreich, loyale Partnerschaft in der transatlantischen Allianz, Versöhnung mit Polen und geduldige und verständnisvolle und vertrauensvolle Beziehung zu Russland.“

Helmut Kohl wird zu Recht „Kanzler der Einheit“ genannt. Natürlich wäre die Einheit Deutschlands nicht zustande gekommen – jedenfalls nicht zum damaligen Zeitpunkt und nicht zu den damaligen Bedingungen – ohne die Reformbewegungen in Ungarn und Polen, ohne Gorbatschow und Bush, ohne den polnischen Papst, ohne die Massendemonstrationen und Massenfluchten in der DDR, aber auch nicht ohne einen Bundeskanzler, der zum richtigen Zeitpunkt konsequent und operativ auf die schnelle Einheit Deutschlands zusteuerte, und dies behutsam und mit Augenmaß. Dabei schaffte er es, in den dramatischen Monaten der Jahre 1989/90 ein ganz persönliches Vertrauensverhältnis aufzubauen zu den Staatsmännern der Welt, zu Präsident George H.W. Bush, zu Michail Gorbatschow, zu François Mitterrand. Er war verlässlich – auch gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn, denen Deutschland geholfen hat auf ihrem schwierigen Weg zur europäischen Union und zur Transformation der eigenen Gesellschaft.

Der Hoffnungsträger  Meine politische Entwicklung verlief – was das Verhältnis zu Helmut Kohl anbetraf – nicht ganz gradlinig. In den 1960er Jahren war der Mainzer Ministerpräsident für uns in der Jungen Union (JU) Hoffnungsträger, er verstand die Anliegen der jungen Generation und galt als Parteireformer. Er war Hauptredner auf einer JU-Landesversammlung in Osnabrück 1965. Anfang der 1970er Jahre – nach der für die CDU verlorenen Bundestagswahl – ging es um die Nachfolge von Kurt Georg Kiesinger als Parteivorsitzender. Es gab zwei Kandidaten, den Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und den Ministerpräsidenten Helmut Kohl. Ich war nach zwei Jahren Parlamentszugehörigkeit von Rainer Barzel zum Parlamentarischen Geschäftsführer berufen worden, war aber unabhängig davon seit langem der Überzeugung, dass in der damals für die Union so schwierigen Zeit beide Ämter, die des Fraktionsvorsitzenden und des Parteivorsitzenden, in eine Hand gehören sollten.

Daher stimmte ich auf dem Bundesparteitag nicht für Helmut Kohl, sondern für Rainer Barzel. Als 1976 dann Helmut Kohl von Mainz nach Bonn ging und die Fraktionsführung im Bundestag übernahm, berief er mich nicht wieder in das Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers, das ich unter Karl Carstens behalten hatte. Ich gehörte damals eben nicht zu seinen engsten Vertrauten. Aber das Blatt wendete sich, als Ernst Albrecht überraschenderweise zum Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen gewählt wurde. Er bat mich, für die im Jahre 1977 anstehende Landtagswahl die Wahlkampfleitung zu übernehmen. Das tat ich. Wir errangen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die absolute Mehrheit, anschließend stand ich dann wieder in Helmut Kohls Notizbuch, wurde 1982 wieder Parlamentarischer Geschäftsführer und später Kanzleramts- und Innenminister.

»System Kohl« Die Regierungsarbeit von Bundeskanzler Helmut Kohl, seine Machtinstrumente, sein Informations- und Entscheidungsmanagement ist oftmals mit dem Begriff „System Kohl“ gekennzeichnet worden – vielfach auch abfällig, weil Kohl sich mit Vertrauten umgab, weil für ihn Loyalität eine große Rolle spielte, weil er sich über hierarchische Strukturen im Haus besonderen Zugang verschaffte zu einer Vielfalt von Informationen, über Strömungen in der eigenen Partei, in der Koalition, in der Regierung, über Gefahrenpotentiale und anderes. Dieses habe ich überwiegend als äußerst effektiv erlebt. Das galt besonders für die Jahre des Umbruchs in Europa, wo von Sommer 1989 an eine Fülle von fast täglichen Entscheidungen getroffen werden musste, um den Prozess der deutschen Wiedervereinigung mit Augenmaß zu steuern, Irritationen zu vermeiden und Vertrauen im nationalen wie internationalen Bereich aufzubauen. Und alle, die am „System Kohl“ beteiligt waren, hatten einen Kompass und hatten ein Koordinatensystem, an dem sich aktuelle und tägliche Entscheidungen ausrichteten.

Helmut Kohl hat in seinen Erinnerungen über seine Zeit in Mainz einmal geschrieben: „Gleichgesinnte um sich zu versammeln, Freunde in Ämter wählen, Vertraute fördern, das ist von vielen Publizisten immer wieder als kritikwürdig angeprangert worden. Für mich war es stets eine notwendige Selbstverständlichkeit. Politische Macht ausüben kann nur, wer für seine Ideen Verbündete findet und mit ihrem Zuspruch zu Mehrheiten gelangt. Es ist absolut legitim und im demokratischen System so angelegt. Zu diesem einzigartigen Erfolgsmodell bekenne ich mich gerne.“

Ich habe Helmut Kohl erlebt als einen Bundeskanzler, der von seinen Mitarbeitern Kompetenz verlangte und Loyalität, der im Vorfeld von Entscheidungen Diskussionen herausforderte, auch Widersprüche und Einwände duldete, wenn sie gut begründet waren. Waren sie oberflächlich, reagierte er harsch. Seinen Vertrauten ließ er einen breiten, persönlichen Freiraum in der Gestaltung der Arbeit, weil er wusste, dass diese in seinem Sinne handelten.

An einige historische Daten will ich in besonderer Weise erinnern. Es war sehr mutig, im Jahre 1983 gegen viele Widerstände in Politik und Öffentlichkeit den Nato-Doppelbeschluss durchzusetzen, dessen Bedeutung für die Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt nicht zu überschätzen ist. Dass die westliche Allianz damals die Kraft gefunden hat, ihre Gegenmaßnahmen gegen den sowjetischen Rüstungsschub der SS 20 durchzusetzen, hat, wie wir von Gorbatschow selbst und anderen wissen, wesentlich zur Neuorientierung der sowjetischen Westpolitik beigetragen. Zugleich hat die Verwirklichung dieses Beschlusses die Vertrauensbasis im Westen wieder gefestigt, die durch Teile der deutschen politischen Öffentlichkeit ins Wanken geraten war. Sieben Jahre später war sie eine der Grundlagen der Wiedervereinigungspolitik. Ich vergesse auch nicht die Weichenstellung für den von Horst Teltschik vorgeschlagenen Zehn-Punkte-Plan, der im kleinsten Kreise im Bungalow des Kanzleramtes vorbereitet und vom Bundeskanzler persönlich getextet wurde, wie ich überhaupt die abendlichen Sitzungen im Bungalow in eher entspannter und ruhiger Atmosphäre für den Gedankenaustausch mit seinen Mitstreitern stets als besonders wichtig empfunden habe.

Schnelle freie Wahlen In starker Erinnerung verbleibt mir besonders der Flug der Bonner Delegation am 19. Dezember 1989 nach Dresden, wo uns auf dem Flughafen viele tausend Menschen und ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen erwartete, als der Bundeskanzler sich auf der Gangway zu mir umdrehte und sagte: „Rudi Seiters, die Sache ist gelaufen.“ Die Rede später vor der Ruine der Frauenkirche, die nicht im Reiseplan stand und spontan organisiert wurde, gehört vielleicht zu den wichtigsten Reden, die Helmut Kohl jemals gehalten hat, weil sie die Menschen nicht aufputschte, sondern sehr sensibel war, sehr menschlich und mit einer an die ganze Welt gerichteten Botschaft. Nur sehr wenige Stichworte, von einem Filzstift geschrieben, standen auf einem kleinen Zettel. Der Bundeskanzler sprach von dem gemeinsamen Weg in die deutsche Zukunft mit Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung und einem „Haus Deutschland“, das unter einem europäischen Dach gebaut werden müsse.

Das Presse-Echo am nächsten Tag war grandios. Der Bundeskanzler habe den Grundstein zur deutschen Einheit gelegt. Präsident Bush rief aus Washington an und gratulierte dem Kanzler zum Erfolg seiner Reise und zu seiner großen Rede. Noch nicht am 30. September (Prager Balkon), noch nicht am 9. November (Fall der Mauer), wohl aber in Dresden, wo die Führung der DDR ihren Staatsgast, den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, mit der eigenen Bevölkerung allein ließ und sich verdrückte, waren wir überzeugt, es mache überhaupt keinen Sinn, weitere Vereinbarungen mit DDR-Ministerpräsident Modrow zu treffen – mit einer Ausnahme, möglichst schnell die freien Wahlen durchzusetzen, die dann auch am 18. März 1990 stattfanden.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen aktuellen Entwicklungen in Osteuropa will ich schließlich auch noch erinnern an den sensationellen Besuch von Michail Gorbatschow im Juni 1989 in Bonn und an die damals von Gorbatschow und Kohl unterzeichnete sowjetisch-deutsche Erklärung mit ihrer unzweideutigen Verpflichtungserklärung beider Seiten, in der es heißt, die Integrität und die Sicherheit jedes Staates und das Völkerrecht müssten uneingeschränkt geachtet werden, und jeder Staat habe das Recht, das eigene politische und soziale System zu wählen.

Vertrauensbeweis N ach meinem Rücktritt am 4. Juli 1993 vom Amt des Bundesinnenministers im Zusammenhang mit dem Antiterroreinsatz in Bad Kleinen, wo ich Schwierigkeiten hatte, den Bundeskanzler vor meiner Pressekonferenz zu erreichen – er war zu dieser Zeit im Pfälzer Wald unterwegs ohne Handy und ohne Bodyguards – gab es zwischen uns eine gewisse Sendepause. Helmut Kohl war mit meinem Rücktritt nicht einverstanden, er wollte mich in meinem Amt halten – für diesen Vertrauensbeweis war ich ihm auch dankbar, ich wollte jedoch die Koalition vor unwürdigen, gegenseitigen Schuldzuweisungen bewahren und außerdem das Signal in die Öffentlichkeit senden, dass nichts vertuscht werde. Helmut Kohl war es dann auch, der ein Jahr später den Vorschlag von Wolfgang Schäuble akzeptierte, mich zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden vorzuschlagen. In dieser Zeit konnte ich Helmut Kohl bei seinem beeindruckenden Israel-Besuch im Juni 1995 begleiten, gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, beim weltweit beachteten trilateralen Treffen des Bundeskanzlers mit dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin und dem jordanischen König Hussein. Anschließend folgte das Zusammentreffen mit Arafat. Damals hofften wir auf eine neue positive Entwicklung im Friedensprozess. Am 4. November 1995 jedoch, wenige Monate später, wurde Rabin ermordet. Der Friedensprozess geriet erneut ins Stocken.

Ich wünsche Helmut Kohl von Herzen, dass sich sein Gesundheitszustand verbessert und dass der 85. Geburtstag Gelegenheit gibt, die großen Leistungen dieses Bundeskanzlers und einzigen Ehrenbürgers Europas erneut angemessen zu würdigen.

Der Autor (77) war auf seinem politischen Lebensweg lange mit Helmut Kohl verbunden. Unter Bundeskanzler Kohl war Seiters 1989 bis 1991 Kanzleramtsminister und dann bis 1993 Innenminister. Der langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete (1969 bis 2002) und frühere Bundestagsvizepräsident (1998 bis 2002) ist seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.