IsLamische FRÜHGESCHICHTE : Der Zufall half mit
Von Mekka nach Medina, wieder zurück und dann raus in die Welt
Eine solche Expansion hatte es in der Geschichte bisher so nicht gegeben. Innerhalb von rund 100 Jahren nach dem Tod des Propheten Mohammed um das Jahr 632 hatte der von ihm verkündete Islam sein Herrschaftsgebiet massiv ausgeweitet (siehe Leiste links oben). Ausgehend vom heutigen Saudi-Arabien war es den arabischen Armeen gelungen, im Osten bis nach Indien und im Westen bis auf die Iberische Halbinsel vorzustoßen. Was sich im Nachhinein als eine Erfolgsgeschichte liest, ist jedoch zu einem beträchtlichen Teil diversen Zufällen der Geschichte geschuldet.
Als Mohammed zu Anfang des 7. Jahrhunderts in Mekka als Prophet auftrat und seine Mitmenschen zur Umkehr und zum Glauben an den einen Gott aufrief, deutete zunächst wenig darauf hin, dass diese Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen würde. Seine Stammesgenossen, die im Wesentlichen die Bevölkerung Mekkas im heutigen Saudi-Arabien ausmachten, hörten seine Botschaft zwar zunächst mit Interesse und Neugier; einige wenige schlossen sich ihm auch an. Als Mohammed jedoch begann, sich gegen die althergebrachten Stammesgötter und -sitten zu wenden, brachen sie mit ihm. Er und seine Anhänger wurden isoliert. Aus Stammesräson war das nachvollziehbar: Der Stamm profitierte von der Pilgerfahrt zum lokalen Heiligtum, der Kaaba, die damals noch eng mit den alten Stammesgöttern verbunden war. Mit den Verkündigungen Mohammeds drohten daher Ansehen und Einnahmequellen des Stammes empfindlich zu leiden.
Flucht aus Mekka Diese Opposition wurde gefährlich für Mohammed und seine Anhänger. Sie flüchteten nach Medina – ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Islams, der den Beginn der islamischen Zeitrechnung markiert. Die Rahmenbedingungen in Medina unterschieden sich fundamental von der Situation in Mekka. Medina war von mehreren Stämmen bevölkert, von denen sich einige in einem anhaltenden Konflikt befanden. Zudem gab es in der Stadt eine starke jüdische Präsenz; monotheistisches Gedankengut war den Medinensern also vertraut. Aufgrund der inneren Streitigkeiten war die Bevölkerung bereit, eine neue Gesellschaftsordnung mitzutragen, deren wichtigster Bezugspunkt nicht länger der Stamm war. Stattdessen wurden „Gott und Mohammed“ als letzte Instanz in Konflikten akzeptiert. Dies hatte eine gewisse Vormachtstellung der neuen Religion zur Folge, ohne dass damit notwendigerweise eine Konversion der Bevölkerung einherging. Allerdings wird die klare Botschaft eines sich offenbarenden Gottes auch eine große Faszination ausgeübt haben.
Das neue Ordnungsprinzip mit dem Islam als zentralem Bezugspunkt, das zunächst neben die hergebrachten Stammesloyalitäten trat und diese allmählich in den Hintergrund drängte (ohne sie jedoch je gänzlich abzulösen), erwies sich als entscheidend für den Erfolg des Islams. So wurden mit der Zeit immer mehr der von Mohammed verkündeten Regeln verbindlich für die gesamte Gemeinschaft. Zudem bedeutete die übergeordnete göttliche Autorität, dass unter dem Islam geschlossene Bündnisse auch über den Tod Mohammeds hinaus Gültigkeit beanspruchen konnten.
Eine weitere wichtige Entwicklung stellt die schrittweise Distanzierung des Propheten vom Judentum dar, ausgelöst wohl durch die ausbleibende Akzeptanz Mohammeds als Prophet bei den jüdischen Stämmen. In Folge dessen änderte sich zum Beispiel die Gebetsrichtung: Beteten die frühen Muslime erst gen Jerusalem, richteten sie sich danach nach Mekka. Bereits vor seiner Flucht hatte Mohammed die Kaaba als abrahimitisches Heiligtum gesehen, nun wurde sie zentraler Bezugspunkt des Islams. Mohammed und seine Anhänger waren auch militärisch aktiv. Hauptzielpunkte waren dabei Mohammeds Stamm und seine Heimatstadt Mekka, die er nach mehreren kriegerischen Auseinandersetzungen schließlich kampflos einnehmen konnte.
Einige der Grundlagen, die Mohammed gelegt hatte, waren auch für den Erfolg der islamischen Eroberungen nach seinem Tod von Bedeutung. Auch hier war das glückliche Zusammenspiel zahlreicher Faktoren entscheidend. Die Einigung der Stämme unter dem Dach des Islam half dabei, Kräfte zu bündeln und einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen. Das muslimische Bewusstsein von der göttlichen Unterstützung der Eroberungen, bestärkt durch frühe Erfolge, darf dabei ebenfalls nicht unterschätzt werden. Die Möglichkeit des Zusammenlebens mit Nichtmuslimen ohne den Zwang zur Konversion war durch das Beispiel Mohammeds ebenso legitimiert wie der Einsatz von Gewalt zur Verbreitung des Herrschaftsbereiches. Weitere Erfolgsfaktoren waren unter anderem die Mobilität der muslimischen Streitkräfte sowie die Flexibilität der Eroberer beim Aushandeln von Verträgen mit der lokalen Bevölkerung, die zudem teilweise die Muslime aktiv gegen die bisherigen Machthaber unterstützten. Hilfreich war zudem, dass die gegnerischen Armeen der Perser und Byzantiner sich in jahrelangen Kriegen aufgerieben hatten.
Neue Ordnung Die Erfolge des Propheten im kleinen und die Expansion im großen Maßstab betrafen vor allem die Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsordnung und weniger den religiösen Bereich. Zwar wurden auch die Grundlagen der neuen Religion bereits zu Mohammeds Lebzeiten gelegt, in einer engen Auseinandersetzung mit spätantikem, jüdisch und christlich geprägtem Gedankengut. Die konkrete Ausgestaltung erfolgte jedoch erst in den nächsten zwei bis drei Jahrhunderten in internen Kontroversen, aber auch im Kontakt mit den verschiedenen nichtmuslimischen Gruppen, die noch über Jahrhunderte die Mehrheit in den meisten Gebieten des islamischen Herrschaftsbereiches bildeten. In dieser Zeit entwickelte sich auch eines der prägenden Merkmale der islamischen Religion und vor allem des islamischen Rechts, nämlich die innere Vielfalt, die unterschiedliche, ja sich widersprechende Auslegungen als gleichermaßen islamisch nebeneinander anerkennt.
Die spätere muslimische Tradition hat die Frühzeit und insbesondere das Leben Mohammeds stark idealisiert und heilsgeschichtlich überprägt. Spätere religiöse und rechtliche Bestimmungen sollten so bereits auf Mohammed zurückgeführt werden. Was sich in der Tradition als lineare Entwicklung mit einem Beginn bei Mohammed liest, war jedoch ein langwieriger und von inneren Auseinandersetzungen geprägter Prozess, dessen Spuren sich in der Vielfalt der religiösen, rechtlichen und theologischen Traditionen des Islam bis heute erkennen lassen.
Der Autor ist Islamwissenschaftler und lehrt an der Universität Edinburgh.