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ÖKONOMIE : An der Nadel

Die russische Wirtschaft ist kaum diversifiziert und stark abhängig von Exporten. Das rächt sich in der Krise

10.08.2015
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5 Min

Wir hängen immer noch "an der Nadel", scherzen manche Moskauer und meinen damit Russlands Abhängigkeit von den Öl- und Gasexporten. Tatsächlich ist die Wirtschaft kaum diversifiziert - der Großteil des Haushalts finanziert sich über den Verkauf von Energieträgern. Und weil der Ölpreis seit Dezember 2014 um die Hälfte gefallen ist und der Export von Gas - das vor allem in den Westen geliefert wird - im ersten Halbjahr 2015 um 12,9 Prozent zurückging, steht Russland nun vor einem großen Problem.

"Unsere Produkte sind jetzt billiger", versucht das Massenblatt "Moskowski Komsomolez" seine Leser aufzumuntern. Eine kritischere Diagnose wagt das Wirtschaftsmagazin "Ekspert": "Wir stellen nichts her."

Tatsächlich ist der einzige Wirtschaftssektor, in dem Russland einigermaßen auf eigenen Beinen stehen kann, die Landwirtschaft. Weitere wichtige Standbeine sind die Rüstungs- und Atomwirtschaft. In beiden Bereichen ist Russland weltweit führend im Export. Außerdem hat das Land einen Anteil von 27 Prozent am internationalen Waffenexport. Es ist damit zweitgrößter Waffenexporteur nach den USA.

Schmiergeld Doch die russische Wirtschaft leidet unter zahlreichen Schwachpunkten. Die wohl größten: Korruption, Steuerflucht und Kapitalabfluss. So berichtete die Zeitung "Iswestija", dass sich das "durchschnittliche Schmiergeld" in Russland gegenüber 2014 fast verdoppelt hat und jetzt bei 3.485 Dollar liegt. Nach Angaben des russischen Föderationsrates werden zudem 42 Prozent des Außenhandels über Offshore-Zonen abgewickelt. Allein in Zypern sind 170.000 russische Unternehmen registriert. Der russische Präsident, Wladimir Putin, hat die Unternehmen - auch staatliche - mehrmals aufgefordert, ihr Kapital nach Russland zu bringen und für diesen Fall Straffreiheit zugesagt. Bisher aber ohne nennenswerten Erfolg.

In den vergangenen 15 Jahren hat sich aber auch Vieles verbessert. Wegen des großen Marktes wurde es für viele ausländische Unternehmen attraktiv, in Russland zu investieren. Vor allem ausländische Autofirmen, aber auch Investoren aus der pharmazeutischen oder der Nahrungsmittel-Branche, bauten in den Gebieten um Moskau und St. Petersburg Fabriken. Die Gebietsverwaltungen stellen extra einen Beamten ab, der für die Investoren alle nötigen Genehmigungen - von der Registrierung des Grundstücks bis zum Gasanschluss - einholt. Allerdings, so berichtet Jens Böhlmann, Pressesprecher der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer in Moskau, "gibt es jetzt häufiger administrative Eingriffe". Das heißt, bei den 6.000 deutschen Unternehmen in Russland kommen Vertreter der Steuerbehörde und des Brandschutzes zu Kontrollen vorbei. Für diese Kontrollen gäbe es in der Regel keinen besonderen Anlass. Offenbar müssten die Beamten eine bestimmte Zahl von Prüfungen durchführen, "um eine vorgegebene Norm zu erfüllen", vermutet Böhlmann.

Wegen des fallenden Rubel-Kurses und der politischen Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise sind die Direktinvestitionen aus dem Ausland aber 2014 nach Angaben der russischen Zentralbank um 70 Prozent zurückgegangen. Sie fielen von 69 auf 21 Milliarden Dollar - das ist der niedrigste Stand seit 2005. Nach einem Bericht der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) bleibt Russland damit zwar international unter den 20 Ländern mit den größten ausländischen Direktinvestitionen, rutschte aber von Platz fünf auf Platz 16.

Russlands große Hoffnung sind jetzt China und die anderen BRICS-Staaten, also Brasilien und Indien. Im Gebiet Uljanowsk will ein chinesisches Unternehmen eine Maschinenbau-Fabrik für drei Milliarden Dollar bauen. Seit August 2014 baut eine chinesische Autofirma eine Fabrik im südlich von Moskau gelegenen Tula.

Ein Problem aber ist Russlands große Abhängigkeit von Importen. So gestaltet sich die geplante Modernisierung der Streitkräfte schwierig, weil Russland, mangels eigener Kapazitäten, die Elektronik aus dem westlichen Ausland importieren muss. Auch 90 Prozent seiner Werkzeugmaschinen muss Moskau aus dem Ausland einführen. Weil viele dieser Importe jetzt wegen möglicher doppelter Verwendungszwecke ("Dual use") unter die Sanktionen des Westens fallen (siehe Text unten), bleibt der Regierung nur die Hoffnung auf neue Lieferanten aus Südkorea, Japan, China und der Türkei.

Und was ist mit dem politischen Druck gegen Unternehmer, von dem man in Deutschland seit dem Fall des Ex-Oligarchen und Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski viel gehört hat? In Russland gibt es immer wieder Unternehmer, die es wagen, sich in die Politik des Kreml einzumischen - sie bekommen teilweise heftigen Gegenwind zu spüren. Anfang Juli löste Dmitri Simin, Gründer des Telekommunikationsunternehmens Wympelkom, seine Stiftung "Dinastija" auf und reagierte damit auf die Entscheidung des Justizministeriums, die Stiftung in die Liste der "ausländischen Agenten" aufzunehmen. Zur Begründung hieß es, dass "Dinastija" auch Geld von ausländischen Organisationen erhalte und neben Wissenschaftsprojekten die russische politische Organisation "Liberale Mission" unterstütze.

Die russische Bevölkerung interessieren solche Fälle weniger. Ihr geht es vor allem darum, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und Löhne gezahlt werden. Und da kann Wladimir Putin etwas vorweisen. Seitdem er im Kreml sitzt, hat sich ein stabiles Wirtschaftsleben entwickelt - anders als in den 1990er Jahren, wo Fabriken geschlossen und monatelang keine Löhne und Renten gezahlt wurden. Von 2001 bis 2013 gab es ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich vier Prozent. Die Reallöhne sind gestiegen und viele Russen können sich Urlaubsreisen und eine gute Wohnungseinrichtung leisten. Zudem verfügt der russische Staat über ausreichend Reserven, um Banken und Schlüsselindustrien zu stützen. Sowohl im Wohlstandsfond (zurzeit 74 Milliarden Dollar) und dem Reservefond (zurzeit 72 Milliarden Dollar) wurde Geld zur Stützung des Haushalts in Krisenzeiten zurückgelegt. Auch das Polster der Devisenreserven ist mit 360 Milliarden Dollar recht groß. Die Staatsverschuldung liegt bei nur 14 Prozent.

Ernste Krise Doch jetzt hat die Wirtschaftskrise Russland fest im Griff. Der russische Wirtschaftsminister Aleksej Uljukajew meint zwar, mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent im ersten Halbjahr 2015 sei das Schlimmste wahrscheinlich schon vorbei. Doch der Chefökonom der Vneschekonombank, Andrej Klepatsch, warnt, die Krise sei diesmal ernster als 2008 und 1998. Schließlich kämen gleich drei Probleme zusammen: der Fall des Ölpreises, der Kursverlust des Rubel und die Sanktionen des Westens.

Volkswirtschaftlich wichtige Unternehmen unterstützt die Regierung jetzt mit Staatsgarantien in Höhe von umgerechnet 5,3 Milliarden Euro. Außerdem hat sie 446 Millionen Euro zur Stabilisierung der Mono-Städte bereitgestellt. In diesen Städten ernährt eine einzige Fabrik den gesamten Ort. Von 319 Mono- Städten im Land seien nur 71 "sozial und wirtschaftlich stabil", gestand der russische Ministerpräsident, Dmitri Medwedew, einmal ein.

Die Arbeitslosigkeit ist von 4,9 Prozent im vergangenen Jahr auf 5,4 Prozent gestiegen. Allerdings dürfte die Zahl viel höher sein, denn wegen der geringen Unterstützungsleistungen melden sich nicht alle Anspruchsberechtigten bei den Arbeitsämtern. Viele Unternehmen streichen den Beschäftigten zudem die Prämienzahlungen. Anfang Juli machten 335.800 Arbeiter und Angestellte Kurzarbeit oder "Urlaub in beiderseitigem Einverständnis".

Die unsichere Lage hat spürbare Folgen. So wurden in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 16.700 Babys weniger geboren, als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Zahl der Diebstähle in Supermärkten ist 2014 um 68 Prozent gestiegen. Und von insgesamt 146 Millionen Russen leben heute 23 Millionen unterhalb der Armutsgrenze.