ISLAM : Gestärktes Selbstbewusstsein
Christlich-orthodoxe Russen und die islamische Bevölkerung sind eng miteinander verflochten
Weithin sichtbar beherrscht schon seit etlichen Jahren die Kul Sharif-Moschee den Kreml von Kasan und die Verkündigungs-Kathedrale. Die Muslime dieser Stadt an der Wolga - Hauptstadt der Autonomen Republik Tatarstan - empfanden und empfinden bis heute eine nicht geringe Genugtuung darüber, dass sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion diesen islamischen Kultbau an geschichts- trächtiger Stätte errichten konnten, denn die muslimischen Tataren von Kasan waren im Jahre 1552 von Zar Iwan IV., "dem Schrecklichen", besiegt und unterworfen, ihre Herrschaft beseitigt worden.
Mit diesem Sieg begann Russlands Expansion in muslimische Regionen hinein, es dehnte sich nach Astrachan und in das Khanat von Sibir jenseits des Urals aus. Zuvor freilich hatte die Goldene Horde (Altin Urda) im Namen der Nachkommen Dschingis Khans lange über die christlichen Russen geherrscht; es war eine zum Islam übergetretene turko-mongolische Reiter-Aristokratie, die bis zu ihrem Zerfall im 14. Jahrhundert die Russen beherrschte. Bis heute sind christlich-orthodoxe Russen und Muslime - die meisten von ihnen türkischer Abstammung - eng miteinander verflochten. Dem "Tatarenjoch", von dem die Russen sprechen, stehen auf der anderen Seite Verfolgung und Diskriminierung, aber auch Assimilation gegenüber: Etwa ein Viertel der russischen Adelsfamilien soll tatarisches Blut in sich tragen.
15 Prozent Im heutigen Russland mit seinen insgesamt rund 144 Millionen Einwohnern dürften nach Schätzungen mindestens 15 Prozent Muslime leben; allein in der Hauptstadt Moskau soll ihre Zahl bei mehr als einer Million liegen, möglicherweise sind es sogar mehr. Die beiden blutigen Tschetschenien-Kriege zwischen 1994 und 2009 haben deutlich gemacht, wie sehr das "muslimische Erwachen", wie sehr vor allem der islamistische Terror von außen auch für Russland wieder zu einem politischen Problem geworden ist - ein Erbe der Vergangenheit, das in vielem unbewältigt geblieben ist.
Aus Sicht vieler Muslime erscheint Russland als das letzte verbliebene Kolonialreich, mit dem Unterschied, dass es sich - anders als das englische, französische, spanische, portugiesische oder niederländische - als kompakter territorialer Block auf der riesigen eurasischen Landmasse erstreckt, nicht jenseits von Meeren oder Ozeanen. Das "Sammeln" muslimischer Untertanen setzte sich im Jahre 1783 fort, als unter Katharina der Großen das Khanat der Krim-Tataren zerschlagen wurde. Auch sie waren - unter der Dynastie der Giray - Nachfolger der Goldenen Horde, später dann Vasallen der Osmanen gewesen. Im 19. Jahrhundert verstärkten die Russen ihre Eroberungen muslimischer Territorien: einmal in Richtung Kaukasus und Transkaukasien, dann nach Mittelasien hinein, nach Transkaspien.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann der Drang in Richtung Kaukasus. Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung zwischen 1829 und 1859, als die zaristischen Truppen in einem endlos langen und verlustreichen Krieg die kaukasischen "Bergvölker" endgültig in die Knie zwangen. Unter ihrem Imam, dem charismatischen Awaren Schamil, hatten sie einen heroischen, doch auch blutigen Widerstand geleistet, der sogar den Engländern im fernen Westeuropa Respekt abnötigte. Mit der Niederlage Schamils wurden die kleinen Kaukasus-Völker - zu denen freilich auch Christen gehörten - bis nach Dagestan hinein endgültig in das Zarenreich eingegliedert. Und dies galt auch für die muslimischen Baschkiren im Gebiet von Ufa, für Kasachen, Kirgisen, Usbeken, Tadschiken und andere muslimische, nach Millionen zählende Völker Mittelasiens, die spätestens seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhundert in Russland "integriert" wurden. Schlüsselfigur dabei war der General Konstantin Petrowitsch von Kaufmann, der im eroberten Taschkent erster Generalgouverneur dieser Region wurde. Parallel dazu flüchteten viele westkaukasische Muslime, wie die Tscherkessen, Abchasen, Balkaren oder Kabardiner, in das Osmanische Reich zu ihren türkischen Brüdern. Bis heute leben Millionen Nachkommen vormals "russischer" Muslime in der Türkei.
Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches versuchten die Muslime Russlands, den kommunistischen Bolschewiki ihre Unabhängigkeit abzutrotzen. Es kam zu den sogenannten Basmatschen-Aufständen, die freilich scheiterten, da die muslimischen Kräfte der Roten Armee nicht gewachsen waren. In der Sowjetunion wurde der Islam unterdrückt; als Ideal galt der "Sowjetmensch", für den Religion oder auch ethnische Zugehörigkeit nicht mehr zählen sollten. Stalin ließ zu Beginn der 1940er Jahre Krimtataren, doch auch viele Kaukasier, etwa Mescheten, Tschetschenen und Inguschen, nach Mittelasien deportieren, weil sie mit Hitlers Truppen fraternisiert haben sollten. Erst unter Chruschtschow, das heißt seit 1956, konnten sie in ihre Regionen zurückkehren und wurden rehabilitiert. Die heutige Situation der Krimtataren nach der Annexion der Krim durch Russland gestaltet sich nun wieder problematisch.
Fast 100 islamische Völker In ihrem 1983 erschienenen Standardwerk "The Muslim Peoples of the Sowjetunion" listet die Autorin Shirin Akiner annähernd 100 muslimische Völker auf. Nachdem sich Kasachen, Kirgisen, Turkmenen, Tadschiken und Usbeken 1992 im Rahmen der GUS-Staaten für unabhängig erklärt hatten, ist die Zahl der Muslime in Moskaus Reich gesunken, doch die prekäre Lage - die beiden Tschetschenien-Kriege zeigten es - ist geblieben. In Tschetschenien, wo der Terror am heftigsten war, herrscht heute unter seinem moskautreuen Präsidenten Ramzan Kadyrow, dem Sohn des ermordeten Muftis Ahmet Kadyrow, eine gespannte Ruhe, mit der Russlands Staatschef Wladimir Putin aber leben kann. Doch das Selbstbewusstsein der muslimischen Bevölkerung in Russland ist gewachsen - nicht nur in Tatarstan, das enge Beziehungen mit der Türkei unterhält und auf seine autonomen Rechte großen Wert legt. Kasan gilt vielen als die heimliche Hauptstadt der russischen Muslime.
Der Autor lebt als freier Journalist in Neu-Isenburg.