Russland : Der Putin-Komplex
In Deutschland gibt es zu viel Verständnis für die friedensgefährdende Politik Moskaus
Seit dem vergangenen Jahr, seit der Annexion der Krim und der Entfesselung eines Sezessionskriegs im Osten der Ukraine, kann man sich schwerlich noch darüber hinwegtäuschen: Das Russland Wladimir Putins - und ein anderes gibt es nach Ausschaltung aller Oppositionen nicht mehr - ist dabei, die 1991 vertraglich fixierte Ordnung des postsowjetischen Raums in Frage zu stellen oder jedenfalls hegemonial neu zu justieren.
Ähnlich wie die "Breschnew-Doktrin" der früheren UdSSR, umreißt die neue "Putin-Doktrin" eine Zone begrenzter Souveränität der Nachbarstaaten, in der so vage wie weiträumig definierte "Sicherheitsinteressen" Moskaus Vorrang vor allen Wünschen der betreffenden Bevölkerungen selbst haben sollen. Diese "Sicherheitsinteressen" umfassen heute wie damals nicht nur die außenpolitischen Beziehungen und militärischen Bündnisse, sondern ebenso die wirtschaftlichen Orientierungen und die innere Ordnung der Nachbarstaaten. Auch die Breschnew-Doktrin von 1968 versteckte sich hinter der Behauptung, dass die demokratischen Reformen in der Tschechoslowakei keine bloße innere Angelegenheit mehr seien, sondern ein Einfallstor für die "imperialistischen Kräfte der Aggression und der Revanche" geschaffen hätten.
Die heutige Putin-Doktrin versucht mit noch waghalsigeren Konstruktionen ein noch wüsteres Bedrohungsszenario an die Wand zu malen. Demokratische "Farbenrevolutionen", heißt es vom Präsidenten selbst, seien vom Westen mittels Geld und "fünften Kolonnen" wie oppositionellen Nichtregierungsorganisationen künstlich angezettelt worden, um im Nahen Osten genau wie in der Ukraine oder Georgien und sogar (vergeblich) in Russland selbst soziale und politische Unruhen zu entfesseln und auf diese Weise "Faschisten" oder "Islamisten" an die Macht zu bringen. Zugleich werde auf jede erdenkliche Weise, etwa mittels homosexueller und "Gender"-Propaganda", die Integrität aller, noch nicht von westlicher Dekadenz angefressener Staaten und Gesellschaften untergraben. Das alles im Interesse kapitalistischer Wirtschaftsinteressen und amerikanischer Weltmachtpläne. Fast geniert man sich, diesen Stuss auch nur zu referieren - der jeden sowjetischen Weltverschwörungswahn von einst ebenso in den Schatten stellt wie die paranoidesten Konstruktionen der US-Weltpolitik in den Zeiten des Kalten Kriegs oder Präsident Bushs berühmte "Achse des Bösen" von 2002.
Obamas anderer Blick Dabei rangiert das gegenwärtige politisch-militärische Auftrumpfen Russlands für den pazifisch orientierten Obama unter allen aktuellen Weltkonflikten höchstens an dritter Stelle, hinter den terroristischen Bürgerkriegen im Nahen Osten und den Ansprüchen Chinas auf das ost- und südchinesische Meer und die Kontrolle der internationalen Schifffahrtswege. Eben diese Großkonflikte schaffen Putin zusätzliche Spielräume, die er auch weidlich ausnutzt. Ohne sich selbst ernstlich bedrängt oder bedroht fühlen zu müssen, kann er auf einer ganzen Klaviatur teils begründeter Kritiken gegen die US-Weltpolitik, teils abgründiger Ressentiments gegen alles, was Amerika lebenskulturell darstellt, spielen. Und dafür bietet die europäische Politik und demokratische Öffentlichkeit ihm einen Resonanzraum, den er seinen Opponenten im eigenen Land nicht eine Minute lang zugestehen würde.
Dass Deutschland in dem Stresstest, den der unerklärte Krieg gegen die Ukraine für die fragile Europäische Gemeinschaft wie das stark gelockerte westliche Bündnis bedeutet, eine Schlüsselrolle spielt und spielen soll, ist unvermeidlich. So verfehlt alle daran geknüpften Erwartungen des deutschsprachigen KGB-Manns auf dem frisch vergoldeten Zarenthron bisher gewesen sind, so bedenklich ist das Spektrum verfälschter Erinnerungen, verfehlter Einschätzungen und bewundernder Sehnsüchte, die sich als starke Unterströmung unter der Oberfläche der standfesten Berliner Regierungspolitik und unbestechlichen Qualitätsmedien (der "Lügenpresse") geltend machen - quer durch alle Parteien und Milieus. Der alten und neuen Linken gilt die Politik Putins als Bollwerk gegen eine angeblich auf Weltherrschaft ausgerichtete US-Politik, und Moskau als das legitime Asyl für einen Edward Snowden, der sich um die Aufdeckung der virtuellen Allwissenheit der NSA-Abhörer verdient gemacht hat, ohne über die höchst reale Unterdrückung oppositioneller Stimmen im russischen oder chinesischen Netz ein Wort zu verlieren.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums sehen wir auf Demonstrationen der Pegida und vor Asylheimen russische Fahnen. Und die vornehmeren Herren wie Gauland oder Gauweiler schwelgen in uralten russisch-preußisch-bavarischen Allianzen, bei denen es, einem eisernen Axiom konservativer Russlandfreunde zufolge, "beiden Ländern immer gut gegangen" sei - so als hätte es 1815 bis 1848 keine "Heilige Allianz" und keine "Demagogenverfolgungen" gegeben, oder 1920 bis 1933 keinen deutsch-sowjetrussischen, auf eine geheime Kooperation von Reichswehr und Roter Armee gestützten Revisionismus gegen die "Weltordnung von Versailles". In Berlin wie in Moskau galten Polen und der Cordon der neuen mittelosteuropäischen Staaten als Schöpfungen der westlichen Siegermächte - eine Politik, die das Vorspiel zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gewesen ist, der Polen militärisch vernichtete, die baltischen Republiken, die Westukraine und das heutige Moldawien der Sowjetunion zuschlug und das östliche Europa teilte, entlang einer Linie, die viele Deutsche auch heute als eine legitime russische Sicherheitszone ansehen.
Aber in der Erinnerung der deutschen Bundesbürger Ost wie West hat der Zweite Weltkrieg ja im Grunde auch erst mit dem fatalen "Russlandfeldzug" von 1941 begonnen. So schickt der mit viel pyrotechnischem Aufwand und publizistischer Begleitmusik produzierte Fernseh-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" seine unwahrscheinlichen Protagonisten (eine deutsch-jüdische Swingjugend von 1940) erst dann auf eine Höllenfahrt, in der sie es außer mit geilen und brutalen SS-Leuten und mit antisemitischen polnischen Partisanen vor allem mit erdhaften Gegnern von Format zu tun bekommen: mit russischen Rotarmisten, die ohne Rücksicht auf Verluste mit "Urrah" kämpfen und den Deutschen, so weit sie überleben, Demut beibringen. Das hat sich dem mentalen Unterfutter auch der Nachgeborenen eingeprägt - gar nicht so fern von Hitlers letzter Prophezeiung gegenüber Speer: "Dem stärkeren Ostvolk gehört jetzt die Zukunft." So wird in einer intellektuellen Neuen Rechten heute an phantastischen Eurasischen Reichsprospekten gebastelt, die - anders als reine Nationalstaaten - der amerikanischen Weltmarkthegemonie alleine noch entgegentreten könnten. Ein solches konservatives Kontinentalreich aber sei, wie der Moskauer Vordenker einer globalen "Geopolitik", Alexander Dugin, lehrt, nur noch unter Führung eines militärisch-politisch-ideologisch neugestählten Russlands möglich.
Ungleich bedenklicher könnte man es allerdings finden, wenn sich in der politischen Mitte eine weit ausgefächerte Querfront von Egon Bahr über den Strauß-Intimus Winfried Scharnagl bis zur Grünen Antje Vollmer sammelt, die in erstaunlich realitätsblinder Weise der Aggression in der Ukraine mit einem "Neustart der deutsch-russischen Beziehungen, bevor es für Alle und Alles zu spät ist", entgegentreten möchte. Europa, heißt es in einer von Bahr vorgetragenen (und vielleicht auch verfassten) Erklärung des "Willy-Brandt-Kreises", dessen Namensgeber sich nicht mehr wehren kann, habe kein Interesse daran, "Russland in die Knie zu zwingen". Dies "unterscheidet die europäische von der amerikanischen Interessenlage". Die USA, heißt es, legten es darauf an, "Russland in die Knie zu zwingen"! Das sagt Putin allerdings auch. Ähnliche Töne waren im Vorjahr schon in dem erstaunlich illoyalen, wohl von Helmut Kohls Amtsleiter Horst Teltschik initiierten, vom Ex-Kanzler und unerschütterbaren Putin-Freund Gerhard Schröder und von anderen hohen Amtsträgern aller Parteien unterzeichneten Aufruf "Nicht in unserem Namen!" angeschlagen worden.
Ostpolitik Niemand dürfte heute noch bestreiten, dass die von Willy Brandt eingeleitete Ost- und Entspannungspolitik der alten Bundesrepublik, die Schmidt, Kohl und Genscher bruchlos weitergeführt haben, zur Auflockerung der Blöcke und Überwindung der Spaltung Europas entscheidend beigetragen hat. Aber diese Politik konnte (wie in der Zeit der "Solidarnosc" und des Kriegsrechts in Polen 1980/81) auch eine ziemlich engherzige, dem baren Status quo verpflichtete bundesdeutsche Interessenpolitik sein, die schon damals der Breschnew-Doktrin weit entgegenkam. Sie blieb in vielem blind für das Wachstum der zivilen Oppositionen und die Zerfallsprozesse in der sowjetischen Machtsphäre, damit aber für viele der Entwicklungen, die entscheidend zum historischen Umbruch von 1989 beigetragen haben.
Eine "neue Ostpolitik 2.0", von der mit einem trotzigen "gerade jetzt" vielfach die Rede ist, dürfte diesen Fehler nicht wiederholen, sondern müsste, wenn schon, als gesamteuropäische Initiative angelegt sein, die Großzügigkeit mit Festigkeit verbindet - und auf irgendeinen präferentiellen Berliner "Draht nach Moskau" ausdrücklich verzichtet.