2030-Agenda : Vorsätze für eine bessere Welt
Auch die reichen Industrienationen müssen sich an den neuen nachhaltigen Entwicklungszielen messen lassen
Selbst in den wohlhabenden USA leiden Kinder Hunger. Zum Beispiel im Alleghany County in North Carolina: Die mächtigen Blue Ridge Mountains und ausgedehnten Wälder locken Touristen in die Gegend. Auf den Farmen ziehen Wanderarbeiter aus Lateinamerika Weihnachtsbäume und Kürbisse groß. Schnellimbisse und Einzelhandel geben noch ein paar Leuten Arbeit - doch darüber hinaus gibt es kaum Jobs. Schon gar keine, von denen sich eine Familie ernähren ließe.
Sozialprogramme des Staates erreichen nicht alle Bedürftigen, und so haben knapp 30 Prozent der Kinder in Alleghany County nicht ausreichend zu essen. Dabei produzieren die USA mehr als genug Nahrungsmittel, um die eigene Bevölkerung zu ernähren. Aber die Armen, selbst jene, die Arbeit haben, können sie sich nicht leisten.
Zum Glück gibt es in Alleghany Leute wie Theresa March, die sich in ihrer Kirchengemeinde für die Hungrigen engagiert - so wie zahlreiche andere Freiwillige auch. Jeden Freitag gibt March Rucksäcke mit Essensrationen für zwei Tage an Schulkinder aus. So hilft sie ihnen übers Wochenende. In den Ferien, wenn die Schulen keine Gratismahlzeiten ausgeben, organisiert sie die Verteilung zusätzlicher Nahrungsmittel.
In Zukunft könnte der amerikanische Staat aufgefordert sein, mehr für die Hungrigen zu tun. Denn auch reiche Industrieländer wie die USA müssen sich künftig an den neuen nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen messen lassen, die am Wochenende auf einem Sondergipfel der Vereinten Nationen in New York offiziell verabschiedet worden sind.
Das erste der Sustainable Development Goals (SDGs) fordert von den Regierungen, die Armut zu bekämpfen. Das zweite verlangt entschlossenes Handeln gegen den Hunger. Und Ziel Nummer zehn schreibt den Mächtigen vor, etwas gegen die soziale Ungleichheit zu tun - und zwar im eigenen Land genauso wie gegen die ungleichen Lebensverhältnisse zwischen Entwicklungs- und Industrieländern. Alle drei Ziele gelten auch für Alleghany County.
Vernetzte Welt Es ist ein Paradigmenwechsel in mehrfacher Hinsicht: Während die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), die 2015 auslaufen, den Schwerpunkt auf die Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern legten, bezieht der neue Zielkatalog auch ökologische Maßstäbe mit ein. Er formuliert wirtschaftliche Ziele - Wachstum, Arbeit für alle - ebenso wie politische Rechte - zum Beispiel Zugang zur Justiz. Und er gilt für alle Länder gleich, arme wie wohlhabende Nationen gleichermaßen. Die Botschaft: In einer zunehmend vernetzten Welt ist eine gute Entwicklung nur partnerschaftlich möglich; und nur, wenn man Ökologie, Wirtschaft und Soziales zusammen denkt.
Vor 15 Jahren, als sich die Vereinten Nationen ihre Milleniumsziele gaben, schien das noch anders. Sechs der acht Milleniumsziele beschäftigten sich damals mit dem Kampf gegen die Armut in den Entwicklungsländern. Sie forderten: die Armut und den Hunger in der Welt von 1990 bis 2015 zu halbieren; eine Grundschulbildung für alle zu garantieren; die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen; die Kindersterblichkeit zu senken; die Gesundheitsversorgung von Müttern zu verbessern und schwere Krankheiten wie Malaria und AIDS zu bekämpfen. Erst an siebter Stelle kam die ökologische Nachhaltigkeit. Ziel acht schließlich verlangte den Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft.
Mit den Millenniumsentwicklungsszielen setzten sich die Vereinten Nationen erstmals konkrete Entwicklungsziele, die durch ein System von Indikatoren messbar gemacht wurden. Weil es nur acht Ziele waren, schien das Ganze überschaubar und prägnant, und die Bedeutung der Ziele war der Öffentlichkeit leicht zu vermitteln. Weltweit mobilisierten die Milleniumsziele die Bürger, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und die Regierungen selbst. Prominente wie Bono, Bob Geldof und Bill Gates engagierten sich, in Deutschland warben Herbert Grönemeyer und Benno Führmann. Der Entwicklungspolitik gaben die MDGs eine klare Richtung vor.
"Dies ist eine einzigartige Veranstaltung", sagte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Eröffnungsrede, als sich im September 2000 die Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen in New York trafen, um die Millenniumsziele zu verabschieden. "Eine einzigartige Chance. Und deshalb auch eine einzigartige Verantwortung."
Bilanz Und es scheint, als seien die Regierungen ihrer Verantwortung gerecht geworden. Die Millenniumsziele gelten als Erfolg: Das erste Ziel, die Halbierung der extremen Armut weltweit, wurde schon im Jahr 2008 erreicht - freilich vor allem aufgrund des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas. Die Unterernährung sank, Kinder- und Müttersterblichkeit gingen stark zurück, und es stieg die Zahl der Kinder, die wenigstens eine Grundschule besuchten, ebenso wie der Anteil der erwerbstätigen Frauen.
Doch nicht überall zeigten die Indikatoren Erfolge an. In Afrika südlich der Sahara beispielsweise sank der Anteil der armen Haushalte nur um wenige Prozentpunkte, von 56 auf 48 Prozent - während weltweit die Quote von 50 auf 14 Prozent zurückging. Und wer genau hinschaut, findet auch viele Gründe, die MDG-Indikatoren selbst zu kritisieren. Zum Beispiel bei der Bildung: Die bloße Zahl der eingeschulten Kinder sagt nichts darüber aus, was sie tatsächlich lernen - und ob sie am Ende einen Abschluss erwerben, der ihnen eine gute Grundlage bietet, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Oder im Fall der Armutsgrenze: Als arm gilt den Vereinten Nationen, wer täglich weniger als 1,25 Dollar zur Verfügung hat. Doch ein paar Cent mehr reichen oft auch kaum zum Überleben. "1,25 Dollar zum Leben, für Essen, Trinken, Wohnung, Heizung, Gesundheit: Das ist absurd", sagt der Philosoph Thomas Pogge, Leiter des Programms zur Globalen Gerechtigkeit an der Universität Yale. Aus Pogges Sicht sank die Zahl der Armen vor allem wegen des globalen Wirtschaftswachstums, nicht so sehr aus entwicklungspolitischen Gründen. Das Wachstum habe die Einkommen generell steigen lassen, und davon hätten eben auch die Armen etwas. "Sie würden noch mehr profitieren, wenn sie an diesem Wachstum proportional beteiligt würden", sagt Pogge. "In Wirklichkeit aber ist der Anteil der ärmeren Hälfte der Menschheit am globalen Haushaltseinkommen geschrumpft." So gesehen hat sich die Armut in den Jahren bis 2015 trotz der Millenniumsziele noch vergrößert.
Eine große politische Anstrengung der Mächtigen der Welt? Mitnichten, sagt Pogge: "Angestrengt hat sich da niemand."
Und während es im Kampf gegen die Armut Fortschritte gab, litt die Umwelt schwer. Der Kohlendioxidausstoß stieg weltweit weiter an, Wälder wurden gerodet, Tierarten starben aus. Im Juni 2012 beschlossen die Vereinten Nationen deshalb auf ihrem Erdgipfel in Rio, dass Nachhaltigkeitsziele an die Stelle der Millenniumsziele treten sollen, die Soziales, Wirtschaft und Ökologie vereinen würden.
UN-Moderation Aber wie sollten die neuen Nachhaltigkeitsziele aussehen? Es dauerte drei Jahre, sich auf eine konkrete Liste zu einigen. Nach dem Rio-Gipfel begann eine intensive Diskussion zwischen Entwicklungs- und Finanzexperten, hochrangigen, fachlich versierten Politikern, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen weltweit - und selbstverständlich den Regierungen selbst. Organisiert und koordiniert wurde die Debatte in verschiedenen Gremien der UN. Und man bat die Bürger um ihre Meinung, zum Beispiel im Kurznachrichtendienst Twitter, wo die Diskussion unter dem Hashtag #thefuturewewant geführt wurde.
Am Ende standen 17 Ziele und 169 Unterziele, die ambitionierter und umfassender nicht sein könnten. Die Vereinten Nationen beschlossen: die Armut in all ihren Formen überall auszurotten; den Hunger zu beenden und sich für eine nachhaltige Landwirtschaft einzusetzen; die Gesundheitsversorgung für alle sicherzustellen; ebenso eine inklusive, gute Bildung für alle, unabhängig vom sozialen Hintergrund der Schüler; die Gleichheit der Geschlechter zu erreichen und den Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung zu garantieren. Zu den Zielen gehören ebenso eine verlässliche, bezahlbare und saubere Energieversorgung; die Vorgabe, das Wirtschaftswachstum zum Nutzen aller zu fördern, produktive, menschenwürdige Arbeitsplätze eingeschlossen; eine widerstandsfähige Infrastruktur aufzubauen, Industrialisierung und Innovation zu fördern und die Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern zu reduzieren; Städte menschen- und umweltfreundlich zu machen; nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster zu gewährleisten sowie den Klimawandel und seine Folgen rasch und entschieden zu bekämpfen. Die Meere und andere Gewässer sollen geschützt und ihre Ressourcen nachhaltig genutzt werden; ebenso die Ökosysteme an Land; friedliche Gesellschaften für alle sollen gefördert werden, mit garantiertem Zugang zur Justiz und verlässlichen Institutionen. Und schließlich sollen die Staaten für die finanziellen, technischen und statistischen Grundlagen sorgen, um die Ziele wirksam in die Praxis umzusetzen.
Indikatoren Künftig soll jeder Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen regelmäßig über seine Fortschritte und Defizite berichten. Welche Indikatoren dafür maßgeblich sein werden, soll bis zum kommenden Frühjahr entschieden sein.
Unabhängig von den konkreten Maßzahlen ist aber eines für die Industrieländer jetzt schon klar: Nehmen sie die neuen Ziele ernst, werden sie sich einschränken müssen. Verbrauchten alle so viele Ressourcen wie sie, wäre unsere Erde schon längst wüst und leer. Doch die Konsum- und Produktionsweisen zu ändern, rührt an die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems. Einfach wird es nicht.
Auf dem Milleniumsgipfel im Jahr 2000 sagte Kofi Annan: "Sie selbst sind die Vereinten Nationen. Es liegt in Ihrer Macht und deshalb auch in Ihrer Verantwortung, die Ziele zu erreichen, die Sie festgelegt haben." Sanktionen für Länder, die ihre Ziele verfehlen, gibt es nicht; so ist es auch mit den neuen, nachhaltigen Entwicklungszielen. Sie werden nur so gut sein wie die Regierungen, die sie umsetzen wollen, so gut wie die Institutionen, die sie umsetzen können - und so gut wie eine wachsame Öffentlichkeit, die Druck auf die nachlässigen Staaten ausüben kann.
In Alleghany County engagiert sich Theresa March derweil weiter für hungrige Kinder. Sie wirbt Freiwillige an, geht in Kirchen, bittet dort um Geld. Eigentlich ist sie schon lange in Pension, aber ihr Ehrenamt ist zu ihrem neuen Vollzeitjob geworden. "Mein Ziel ist es, alle zu versorgen", sagt Theresa. "Wir können den Teufelskreis der Armut nur durchbrechen, indem wir die Kinder erreichen."
Die Autorin ist Redakteurin bei "Zeit Online"