AFGHANISTAN : Mit vollem Risiko
Immer mehr Menschen zweifeln an der Zukunft ihres Landes und machen sich auf eine gefährliche Reise
Kabul - Es herrscht Stille in dem altersschwachen Bus. Ein paar wenige Frauen ziehen im Halbdunkel der schummrigen Innenbeleuchtung voller Scheu ihre Schleier übers Gesicht. Ein halbes Dutzend älterer Männer mit ausgemergelten Gesichtern drücken kleine Bündel auf den Schoß. Die meisten der 56 Fahrgäste sind junge Burschen in verstaubten Kleidern. Einer starrt sehnsüchtig in das kleine Fenster eines Ladens, in dem Glühbirnen verlockende afghanische Süßigkeiten beleuchten. Aber es gibt keine Kunden. Die Fahrgäste halten ihr Geld lieber beisammen während dieser letzten Minuten vor ihrem großen und lebensgefährlichen Abenteuer. "Wir wollen alle nach Europa, Präsident Ashraf Ghani kann Afghanistan für sich alleine haben", sagt Naquib, ein 26-jähriger Mann aus der bei Kabul gelegenen Provinz Kapisa.
Das Gefährt, in dem die Afghanen an einem Busbahnhof im Westen der Hauptstadt Kabul die erste Etappe ihrer vielleicht monatelangen Reise ins Ungewisse antreten, ist sozusagen das schrottreife Symbol des Ziels ihrer Träume: Ein alter Mercedes-Bus, der noch ein Kennzeichen aus dem Landkreis Starnberg trägt.
Das vollbärtige Gesicht des 22-jährigen Fahrers Nisar Ahmad flackert im Licht des Feuerzeugs, mit dem er sich um fünf Uhr morgens noch schnell eine Zigarette vor der zehn Stunden, manchmal 18 Stunden langen Fahrt vom schlammigen Busbahnhof im Westen Kabuls in die staubtrockene afghanische Provinz Nimruz ansteckt. "Wir sind die Letzten heute Morgen", sagt Ahmad und lehnt sich gegen die Fahrertür mit der Aufschrift Rollbo GmbH Hamburg, "jeden Morgen ab ein Uhr fahren hier 30 vollbesetzte Busse nach Nimruz ab. Das geht schon seit März so."
Schleichwege in den Iran Keiner der Passagiere der durch Krieg und Hoffnungslosigkeit ausgelösten Völkerwanderung trägt einen Pass oder eine Identitätskarte bei sich. Stattdessen hüten die Männer neben einem sorgfältig versteckten Bargeldvorrat wie ihren Augapfel die Telefonnummer des Besitzers eines kleinen und armseliges Hotels (wie in Afghanistan Restaurants genannt werden) am Rand der Provinzhauptstadt Zaranj. Dieser Mann hilft gegen die Summe von 30.000 Afghanis (zirka 500 US-Dollar) bei der Überwindung der zweiten Etappe ihrer Reise: Er schmuggelt die Afghanen auf Schleichwegen ins Nachbarland Iran. Dort müssen sich Männer bis nach Teheran durchschlagen. In Irans Hauptstadt warten kurdischen Schlepper für die nächste Etappe.
"Die Kurden beherrschen den Markt", sagt der 35-jährige Mohammad Amin, "sie lassen niemanden sonst zu." Amin betreibt ein sogenanntes Reisebüro. Seine Ausrüstung hält er in der Hand: Je ein brandneues Smartphone der beiden weltweit bekanntesten Fabrikate.
"Nach Teheran folgt der gefährlichste Teil der Reise", sagt Amin, "ein acht bis neun Stunden langer Fußmarsch über die Berge in die Türkei." Erst vor drei Wochen haben laut Amin iranische Grenzwächter eine junge Afghanin mit ihrem Sohn sowie eine weiteren Mann erschossen, als sie auf der Schmuggelroute in den Bergen gestellt wurden.
"Ich empfehle niemandem, den Weg über den Iran zu nehmen", sagt Amin, dessen Geschäft darin besteht, Afghanen die legale Reise samt Pass und Visa in den Iran zu ermöglichen. Er weiß, dass die meisten seiner Kunden von Teheran den Weg nach Europa versuchen. "Die beliebtesten Ziele sind Deutschland, Schweden und London", sagt er, "aber es ist besser, sich hier ein türkisches Visum zu besorgen und dann von Istanbul nach Europa weiter zu ziehen."
Schwarzmarkt für Visa Aber bei der Suche nach einem Leben ohne Bomben entscheidet nicht das Risiko der Route, sondern Geld. Selbst ein hoher Anteil der Generäle, die zur Fortbildung nach Deutschland geschickt werden, setzt sich ab. 6.000 bis 7.000 US-Dollar kostet ein türkisches Visum. Ankaras Botschaft bestreitet zwar heftig jeden Schwarzhandel. Aber Afghanen wissen: Mitarbeiter des afghanischen Vizepräsidenten, ehemaligen Kriegsfürsten und Türkei-Verbündeten Rashid Dostum können monatlich bis zu zehn Visa verkaufen. Ein Schengen-Visum wird auf Afghanistans Straßen für über 25.000 US-Dollar, deutsche Visa für 15.000 US-Dollar angeboten. Oft sind sie gefälscht oder werden auf dem Umweg über Indien besorgt.
Ali Ahmed kann solche Summen nicht aufbringen. Sechs Jahre lang arbeitete er als Wächter bei der deutschen "Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit" (GIZ) in der Stadt Kunduz. Der Vater von zwei jungen Söhnen musste Ende September vor den heranrückenden Talibanmilizen aus seiner Heimatstadt fliehen. "Ich will das Leben meiner Familie nicht auf dem langen Weg über den Iran riskieren", sagt er. Ahmed erfuhr nach der Eroberung der 300.000 Einwohner zählenden Stadt am eigenen Leibe, was Todesangst bedeutet: "Zwei Talibankämpfer tauchten vor meinem Haus auf, einer hat mit dem Kolben seiner Kalaschnikow auf mich eingeschlagen und immer wieder gefragt: Warum hast du für die Deutschen gearbeitet?"
Ahmed überlebte, weil die jungen Taliban erst noch etwas kämpfen und später zurückkehren wollten. Aber die radikalislamischen Milizen besitzen ein längeres Gedächtnis als deutsche Stellen in Afghanistan. Die GIZ, bei der Ahmed seit 2009 arbeitete, kündigte ihm Ende Juli. Begründung laut Entlassungsurkunde: "Änderungen bei der GIZ". Als die Taliban nach Kunduz kamen, musste er seine Haut auf eigene Faust retten. "Wenn die Deutschen mir nicht helfen, ist das Verrat", sagt er nun voller Verbitterung.
Fotos und Gerüchte "Der Fall von Kunduz hat jahrelange Bemühungen zunichte gemacht, in der Stadt Bürgerrechte zu etablieren", sagt ein Diplomat, "keine einzige afghanische Menschenrechtsorganisation ist willens, dorthin zurückzukehren." Afghanistans Bevölkerung wiederum ist zusätzlich verunsichert, weil bis Ende September niemand damit rechnete, eine Provinzhauptstadt könne in die Hände der Taliban fallen. "Ich frage mich, ob ich meine Ersparnisse auf der Bank in Kabul lassen soll, wenn die Taliban übernehmen, verschwindet das alles vielleicht", befürchtet der Autohändler Ashraf Shah.
Neu sind die Zweifel an Afghanistans Zukunft nicht. Die Massenflucht vom Hindukusch wurde durch den Abzug westlicher Truppen ausgelöst. Familien beginnen ein Vabanquespiel, um sich einen Weg nach Europa zu ebnen. Sie verkaufen ihre Häuser. Oder sie landen im Schmuckladen von Ahmed Wali Akhundzai auf dem Mandae, dem größten Markt der Hauptstadt Kabul. "Ich habe keine Käufer mehr, nur noch Leute, die verkaufen wollen", klagt er. Universitätsabgänger fänden keine Arbeit, die Angst vor den Taliban und IS wachse. "Wer will da noch bleiben?", fragt Akhundzai.
Die Glücklichen, denen die Flucht gelang, feuern mit Fotos auf Facebook den Neid und Nachahmungswillen von Freunden und Nachbarn an. Selbst für die hartnäckigsten Zweifler kennen die Schlepper ein - frei erfundenes - Argument. "Es heißt, nach Weihnachten werden die Grenzen geschlossen, wer es schaffen will, muss jetzt los", sagt Amin.
Der Autor reist als Journalist regelmäßig nach Afghanistan.