EUROPA : Die Nachbarn machen weiter
Einige Meiler nahe der deutschen Grenze könnten noch Jahrzehnte in Betrieb sein. Viele sind alt und störanfällig
Während in Deutschland Ende 2022 die letzten acht noch in Betrieb befindlichen Meiler abgeschaltet werden, bleiben viele europäische Nachbarn der Atomkraft treu. Schwere Störfälle oder gar Atomkatastrophen bleiben damit denkbare Szenarien in Europa und eine mögliche Gefahr auch für Deutschland: Schließlich ist es dicht umringt von Kernkraftwerken.
Neubauten von Atomkraftwerken (AKWs) sind in Westeuropa zwar kaum ein Thema, vor allem weil die Kosten dafür stark gestiegen sind. Die beiden einzigen in in Bau befindlichen Kraftwerke in Olkiluoto (Finnland) und Flamanville (Frankreich) erweisen sich derzeit als Geldvernichter, ihre Fertigstellung hinkt bald ein ganzes Jahrzehnt hinter dem ursprünglichen Zeitplan hinterher. Auch Großbritannien hat den Bau einer neuen Anlage in Hinkley Point jüngst wegen Zweifeln an der Finanzierbarkeit auf Eis gelegt. Kernkraftgegner fürchten daher weniger neue AKWs, sondern vielmehr die Verlängerung der Laufzeiten bestehender Kraftwerke - sie könnten vielerorts noch viele Jahrzehnte weiter laufen. 129 Anlagen in 14 Mitgliedstaaten sind laut EU-Kommission derzeit in Betrieb, sie erzeugen gegenwärtig rund 28 Prozent der Elektrizität der Union.
Weil in Europa der Wind meistens aus westlicher Richtung kommt, was bei einem Unfall entscheidend für die Verbreitung des nuklearen Fallouts ist, richtet sich der deutsche Blick besonders nach Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Letztere betreiben seit 1973 in Borssele ein Kernkraftwerk, Belgien hat sieben Reaktoren an zwei Standorten. Immer wieder kommt es dort zu Pannen und Notabschaltungen, die im Januar sogar die Bundesregierung auf den Plan riefen. Das Bundesumweltministerium drohte, man werde "alle Kanäle nutzen, um der belgischen Regierung die deutsche kritische Haltung zu vermitteln und die deutsche Besorgnis über den fortgesetzten Betrieb der Atomkraftwerke Tihange 2 und Doel 3 zum Ausdruck zu bringen" - eine scharfe Rüge unter europäischen Partnern.
In der Schweiz sind fünf Kernkraftwerksblöcke am Netz, davon drei (in Leibstadt und Beznau) fast unmittelbar an der deutschen Grenze. Das Atomland schlechthin, Frankreich, betreibt 58 Meiler. Besonders nah an Deutschland liegen Fessenheim sowie Cattenom bei Metz und Chooz an der Grenze zu Belgien. Fessenheim ist das älteste noch in Betrieb befindliche französische Kraftwerk und äußert störanfällig. Unter anderem macht es wegen eines rissigen Reaktorbehälters Schlagzeilen; zuletzt wurde es im Mai notabgeschaltet.
Auch in Osteuropa gibt es zahlreiche Anlagen. Die sechs tschechischen Reaktoren sind ebenfalls nicht weit entfernt von Deutschland - zwei sind Teil des besonders umstrittenen Kraftwerks in Temelin. Die erst im Jahr 2000 in Betrieb genommene Anlage gilt nach zahlreichen Vorfällen als extrem pannenträchtig. Erst vor einem Jahr trat in Temelin bei einem Störfall sogar Radioaktivität aus.
Zahlreiche Initiativen in Deutschland machen gegen die benachbarten Anlagen Front, so auch das "Aktionsbündnis Fessenheim Stilllegen", in dem neben Umweltschutzorganisationen wie dem Nabu auch Gewerkschaften, die Grünen, Linke und SPD aktiv sind. Auf europäischer Ebene wird versucht zu beschwichtigen. "Fünf Jahre nach Fukushima hat Europa die Lektionen gelernt", versprach jüngst Energie-Kommissar Miguel Arias Cañete. Allerdings hat die EU selbst nicht viele Möglichkeiten, Einfluss auf die Atompolitik der Mitgliedstaaten zu nehmen. Über den Strommix entscheiden allein die Staaten, so ist es ausdrücklich in den europäischen Verträgen geregelt. Auch kann die EU keine einheitlichen Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke vorschreiben.
Kritik an Beihilfen Lediglich über das Wettbewerbsrecht kann die Kommission Einfluss nehmen. Doch hier musste sie heftige Kritik einstecken, als sie der britischen Regierung im Oktober 2014 erlaubte, den Neubau von Hinkley Point durch Subventionen zu fördern. Und auch ein im Mai bekannt gewordener Entwurf eines Strategiepapiers sorgte für heftige Aufregung. Die EU-Kommission schreibt darin, sie wolle "die Erforschung innovativer Atomtechnologien bestmöglich fördern". So sollen bis 2025 erste Konzepte für flexible Mini-AKWs (SMR) vorliegen. Diese Kleinstkraftwerke bestehen aus in Serie gebauten Modulen und sollen damit kostengünstiger, sicherer und nah an Städten und Kommunen zu errichten sein. Während die Atomindustrie große Hoffnungen in die Technologie setzt, nannte es Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) "absurd", dass in Brüssel überhaupt neue Hilfen für die Atomkraft erwogen werden.
Schon jetzt fördert die EU Nuklearforschung mit Milliardensummen. Insgesamt 1,6 Milliarden Euro fließen zwischen 2014 und 2018 in das "Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung", das auch herkömmliche Nukleartechniken unterstützt. Weitere 2,9 Milliarden Euro werden für das ITER-Programm zur Erforschung der Kernfusion, zur Verfügung gestellt, das viele für eine kostspielige Fehlinvestition halten, weil Fusionsreaktoren frühestens in Jahrzehnten, vielleicht aber auch nie eine wirtschaftliche Energiequelle darstellen könnten.
Bei aller Kritik ist Brüssel der Atomindustrie mit den nach Fukushima in die Wege geleiteten "Stresstests" für Kernkraftwerke aber auch spürbar auf den Leib gerückt. Fast alle EU-Anlagen und darüber hinaus Meiler in der Ukraine und der Schweiz wurden einer Prüfung unterworfen, im Blick stand hauptsächlich die Reaktionsfähigkeit auf externe Ereignisse wie Erdbeben, Überflutungen und extreme Wetterbedingungen, aber auch Sicherheitsfunktionen. Kritiker bemängelten jedoch, dass wichtige Risikofaktoren wie menschliches Versagen und alterndes Material kaum betrachtet worden seien, genausowenig wie die Gefahr von Flugzeugabstürzen.
Immerhin deckten die Tests zum Teil erhebliche Sicherheitslücken auf, vielerorts würde nachgerüstet. Und der europäische Dialog über die Sicherheit der Anlagen soll fortgesetzt werden. "Künftig wird es in Europa alle sechs Jahre sogenannte 'Topical Peer Reviews' verpflichtend geben", teilt das Bundesumweltministerium mit. Die Mitgliedstaaten sollen sich darin zu ausgewählten Fragen der Atomsicherheit austauschen und mögliche Verbesserungen im Hinblick auf die kerntechnische Sicherheit ihrer Anlagen identifizieren. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hat Belgien bislang erfolglos zur einstweiligen Stilllegung unsicherer Kraftwerke gedrängt. Immerhin wurden im Februar gegenseitige, grenzübergreifende Inspektionen in Atomkraftwerken vereinbart. Eine deutsch-belgische Arbeitsgruppe zur Nuklearen Sicherheit hat zudem im April die Arbeit aufgenommen. Im Rahmen bilateraler Abkommen führt Deutschland mit weiteren fünf Ländern Gespräche über die Reaktorsicherheit: mit Frankreich, Niederlande, Österreich, Schweiz und der Tschechischen Republik.
Der Autor ist Redakteur in der Funke-Zentralredaktion.