Bulgarien II : Gefangen im Teufelskreis der Armut
Trotz vieler Förderprogramme leben die Roma weiter am Rand der Gesellschaft. Viele wohnen in illegalen Siedlungen, wo nicht investiert wird
Auf einer Anhöhe über dem Sofioter Stadtbezirk Ovtscha Kuppel liegt Fakulteta, mit geschätzten 30.000 Bewohnern das größte Romaviertel der bulgarischen Hauptstadt und eines der größten auf der Balkanhalbinsel. In der "Machala" (Siedlung) gibt es zugige Bretterverschläge und windschiefe Bruchbuden direkt an Müllhalden, aber auch stattliche Einfamilienhäuser, in denen Hausfrauen den Hof fegen und Männer das Auto waschen. Aus Wohnungsfenstern und vorbeifahrenden Autos dröhnt "Chalga". Bulgarische Bildungsbürger halten den orientalisch anmutenden Pop-Folk mit Bauchtanzrhythmen für den Inbegriff der Unkultur.
Kaum Abgeordnete Rund 325.000 Bürger identifizierten sich bei der letzten Volkszählung 2011 als Roma, Schätzungen besagen aber, dass gut zehn Prozent der 7,1 Millionen Bulgaren Roma sind, das Balkanland damit den größten Roma-Anteil aller EU-Staaten hat. "Sollten wir politisch wirklich repräsentiert sein, müssten wir mehr als 20 der 240 Sitze im Parlament besetzen", sagt Ognjan Isaev. Der diplomierte Psychologe arbeitet beim "Roma Education Fund" (REF) für den Abbau der Segregation im Bildungswesen. "Tatsächlich haben wir so gut wie keine Abgeordneten in nationalen und kommunalen Parlamenten und auch keine Minister und Richter", klagt er.
Der REF ist ein Produkt der von der George Soros-Stiftung initiierten "Dekade der Roma-Inklusion 2005-2015". In unmittelbarer Nachbarschaft zur Schule von Fakulteta betreibt er eine Spielzeug-Bibliothek. In ihr können sich Kinder pädagogisch sinnvolle und die Motorik fördernde Spielzeuge ausleihen. Ognjan Isaev kann viele positive Resultate der Arbeit seiner Organisation nennen. Schüler wurden aus segregierten Roma-Schulen mit äußerst niedrigem Bildungsniveau in gemischten Schulen untergebracht, Erwachsenen die Möglichkeit zum Nachholen ihres versäumten Schulabschlusses gegeben und einigen hundert jungen Roma Stipendien für das Studium gewährt. Trotz dieser Erfolge beurteilt Isaev die Resultate der Roma Inklusions-Dekade skeptisch. "Sie hat an der Marginalisierung der Roma nichts Wesentliches geändert, in der bulgarischen Gesellschaft herrscht weiter Rassismus und in den Behörden institutioneller Antiziganismus", sagt er. Tatsächlich halten viele Bulgaren die Minderheit der Roma für integrationsunwillig und arbeitsscheu. "Ziganite" (die Zigeuner) zahlten weder Strom noch Wasser und stellten das kleinkriminelle Kontingent des Landes, lauten gängige Vorurteile. "Die wenigsten Insassen der Haftanstalten sind Roma", erwidert Ognjan Isaev darauf.
Ethnische Bulgaren haben im Alltag kaum Kontakt zu Roma; sie gehen nicht in ihre Wohnviertel an den Stadträndern und in den Zentren der Städte trifft man Roma selten. Zuweilen sieht man sie dort als verelendete Individuen Mülltonnen nach Verwertbarem durchsuchen, als geringfügig Beschäftigte Straßen kehren und in Grünflächen Unkraut jäten oder als Kleinunternehmer mit Pferdekarren Altmetall transportieren. Im öffentlichen Diskurs spielen die Roma kaum eine Rolle; in Sonntagsreden zum Tag der Roma am 8. April betonen Politiker stets die Wichtigkeit ihrer Integration, im Umfeld von Wahlen wird der massenhafte Kauf ihrer Stimmen problematisiert.
Immer wieder entstehen aber wie zuletzt Ende Juni 2017 in der Rhodopenstadt Assenovgrad aus persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Roma und Bulgaren ethnische Konflikte und antiziganistische Demonstrationen. Politiker reagieren auf sie für gewöhnlich mit dem Versprechen, "illegale Wohnbehausungen" der Roma abzureißen. Mehrfach hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Bulgarien verurteilt, weil Wohngebäude von Roma abgerissen wurden, ohne alternative Wohnmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. "Zum Glück verstehen immer mehr Bürgermeister, dass etwas getan werden muss, wenn bei ihnen 500 Leute vor der Tür stehen, die keinen Platz zum Leben haben", hofft Isaev auf ein Umdenken.
Nicht so sehr in der Bildung, eher in den miserablen Lebensverhältnissen in den Roma-Vierteln sieht Ognjan Isaev das grundlegende Problem. Zunächst müssten Nahrung, Wärme und existenzielle Sicherheit gewährleistet seien, damit Menschen ein Sozialbedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung entwickeln und sich selbst verwirklichen könnten, argumentiert er mit Verweis auf die Bedürfnispyramide des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow. "Ohne Arbeit sind die Roma kaum für Bildung zu motivieren, ohne Bildung aber fehlt ihnen das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Gesundheitsvorsorge".
In kommunistischer Zeit hatte es keine Bedeutung, dass die wenigsten Roma Dokumente hatten für die Häuser, in denen sie leben. Nach der Wende aber machte die Restitution der Grundstücke die auf ihnen stehenden Gebäude illegal. Die meisten Machalas befinden sich auf Gebieten ohne gültige Bebauungspläne. "Kommunen dürfen öffentliche Gelder gar nicht in Infrastrukturprojekte in unregulierten Gebieten investieren", beschreibt Isaev einen Teufelskreis.
Warum die Dekade der Roma-Inklusion in Bulgarien und anderen Ländern kaum sicht- und greifbare Resultate gebracht hat? "Die verantwortlichen Regierungen haben erwartet, George Soros werde ihnen Geld zur Durchführung notwendiger Maßnahmen geben", antwortet Isaev. "Die Soros-Stiftung hat ihnen aber nur aufgezeigt, wo die Probleme liegen und wie sie zu beheben seien. Alles, was in Bulgarien zur Integration der Roma getan wird, geschieht auf Druck von außen, von der Europäischen Union oder Sponsoren. Im Land selber fehlt der Wille, bei Politikern und in der Bevölkerung", bedauert Ognjan Isaev.