Irak-Kurdistan : Vom Gegenwind zum Sturm
Nach dem Unabhängigkeitsreferendum eskaliert die Lage, auch unter den Kurden selbst
Fuad Aziz ist ernüchtert. "Wir Kurden sind auf dem Rückzug", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). "Alles, was uns gemeinsam bleibt, ist der Friedhof." Ansonsten herrsche totale Segregation. Aziz lebt und arbeitet in Tuz Khurmatu, einer 60.000 Einwohner-Stadt etwa 80 Kilometer von der Ölstadt Kirkuk entfernt, um die es in den vergangenen Wochen so viel Wirbel gab. "Was sich im Ort abspielt, könnte sich bald auch anderswo wiederholen", prophezeit der Kurde.
In Tuz Khurmatu liefern sich kurdische Peschmerga-Soldaten, die irakische Armee und vor allem Schiitenmilizen seit 2015 immer wieder blutige Kämpfe. Inzwischen trennt eine lange Mauer die Volksgruppen in der seit Jahrhunderten existierenden Multi-Kulti-Stadt. Familien werden auseinandergerissen, gemischte Ehen zerbrechen, Fußballer aus Erbil und Dohuk werden mit Steinen beworfen.
Dieser Entwicklung ist Kirkuk knapp entgangen. Gerade noch rechtzeitig hatte Aziz' Partei ihre Peschmerga-Milizen aus der Millionenstadt abgezogen, als die irakische Armee und mit ihr die Schiitenmilizen im Anmarsch waren.
Kurdenführer Masud Barzani und seine Kurdisch Demokratische Partei (KDP) haben sich verschätzt. Am 25. September ließen sie ihre Landsleute über ein unabhängiges Kurdistan abstimmen, einen eigenen kurdischen Staat. Dabei beschränkte sich die Volksabstimmung aber nicht auf die vier kurdischen Provinzen im Irak, Erbil, Dohuk, Suleimanija und Halabja, die ohnehin schon weitgehende Autonomie genießen. Barzani ließ auch dort abstimmen, wo seit dem Blitzkrieg der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Sommer 2014 die kurdischen Peschmerga-Soldaten die Kontrolle übernommen hatten. Dazu gehören Kirkuk und Tuz Khurmatu. Die so genannten "umstrittenen Gebiete" waren vor dem IS unter der Verwaltung Bagdads, fortan sollten sie kurdisch verwaltet werden.
Mit dieser "Eingemeindung" würde das Territorium Kurdistans um 40 Prozent ausgedehnt - eine Expansion, die Bagdad nicht hinnehmen will. Barzani aber strahlte, als mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen ein Ja für die Unabhängigkeit ergaben. Nun sollten Verhandlungen mit der Zentralregierung aufgenommen werden über eine Loslösung Kurdistans vom Rest-Irak. Doch Barzani bekam Gegenwind, der sich zu einem regelrechten Sturm entwickelte.
Der Wahltag selbst verlief noch relativ ruhig. Doch danach kam es im Zentrum von Tuz Khurmatu stundenlang zu heftigen Gefechten zwischen turkmenischen Milizen und dem kurdischen Geheimdienst Asayesh. Tuz wurde zum Zentrum ethnischer Machtkämpfe. Insgesamt sollen 30 Menschen, vor allem in der Provinz Kirkuk, den Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen sein. Pikantes Detail: Das gemeinsame Kommando der irakischen Streitkräfte geht davon aus, dass die Kurden deutsche Milan-Panzerabwehrraketen gegen die irakische Armee und die Schiitenmilizen eingesetzt hätten. Von kurdischer Seite wird dies nicht bestätigt. Auch die Bundeswehr, die derzeit 150 Soldaten als Ausbilder der Peschmerga in Erbil stationiert hat, spricht von ungesicherten Erkenntnissen (siehe auch Seite 9).
"Die Konfliktlinien verlaufen jetzt immer mehr zwischen Turkmenen und Kurden", berichtet PUK-Vize Fuad Aziz über die Situation in Tuz Khurmatu. "Die Araber ziehen weg oder ducken sich ab, um nicht zwischen die Fronten zu geraten." Reibungen zwischen den sowohl schiitischen als auch sunnitischen Turkmenen und den Kurden habe es in Tuz Khurmatu immer gegeben, aber durch den IS hätten diese sich erheblich verschärft, sagt Aziz. Er gibt aber auch zu, dass sich die Kurden ebenfalls nicht gerade "anständig" verhalten hätten, als sie in den 1950er Jahren einige mehrheitlich von Turkmenen bewohnte Dörfer eroberten. Und dann gibt es den Fall Amerli. Der Ort im Kreis Tuz Khurmatu war wochenlang belagert von IS-Kämpfern. Erst als die mehrheitlich turkmenischen Bewohner mit kollektivem Selbstmord drohten, wenn ihnen nicht geholfen werde, griffen irakische Armee, Schiitenmilizen und Peschmerga ein und befreiten den Ort aus den Fängen der Terroristen. Fortan suchten die schiitischen Turkmenen Unterstützung bei Hashid al-Shaabi, dem Zusammenschluss der Schiitenmilizen. Die sunnitischen Turkmenen baten die Türkei um Hilfe.
Grenzen geschlossen Die beiden Nachbarländer Iran und Türkei sind neben der irakischen Regierung in Bagdad die stärksten Gegner des Strebens der irakischen Kurden nach einem eigenen Staat. Beide fürchten, dass ihre kurdischen Minderheiten in dieselbe Richtung drängen und durch die Nachbarn im Irak ermutigt werden. Um Druck auf Barzani und seine Anhänger auszuüben, schloss der Iran die Grenze zu Irak-Kurdistan, die Türkei will dasselbe tun. Bagdad blockiert zudem seit vier Wochen den Luftraum über Erbil und Suleimanija. Internationale Flüge zu den Kurdengebieten wurden abgesagt. Die Haltung Bagdads, der Türkei und des Iran findet auch Unterstützung durch die USA, die EU und die Vereinten Nationen. Sie lehnen das Referendum ebenfalls ab und setzen auf die Einheit Iraks als Staat. Ihre Sorge ist, dass die Abspaltung Kurdistans auch andere separatistische Bewegungen aufwecken könnte. Das wäre das Ende des Irak. Barzanis Kalkül, die Gunst der Stunde nach der weitgehenden Vertreibung des IS zu nutzen, um sein lang gehegtes Ziel eines Kurdenstaates voranzutreiben, ging nach hinten los. Nicht nur die internationale Gemeinschaft probt in der Folge den Schulterschluss mit Bagdad, auch die Spannungen innerhalb der kurdischen Parteien und Organisationen haben dramatisch zugenommen. Es heißt jetzt nicht mehr nur Erbil gegen Bagdad, sondern auch Erbil gegen Suleimanija sowie Kurdenführer Masud Barzani gegen die Anhänger des verstorbenen Kurdenführers Dschalal Talabani und seiner PUK. Nirgends wird dieser Bruderzwist so deutlich wie in den Reihen der ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer, den Peschmerga. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 und der Entscheidung der beiden Kurdenführer Barzani und Talabani, fortan mit einer Stimme zu sprechen, wurde der Entschluss gefasst, nicht nur die politischen Institutionen zusammenzuführen. Das neu geschaffene Peschmerga-Ministerium sollte auch die ehemaligen Guerillakämpfer zu einer einheitlichen Armee transformieren, deren Divisionen bis dahin entweder Barzani oder Talabani unterstanden Der Beschluss wurde nie umgesetzt. Dass die Talabani-Partei PUK vor einigen Tagen ihre Kämpfer aus Kirkuk abgezogen hat, wertet Barzani als Verrat. Erstmals seit mehr als vier Wochen hat die kurdische Regionalregierung nun einen Kompromiss angeboten. Sie werde die Ergebnisse des Unabhängigkeitsreferendums zunächst auf Eis legen, verlautbarte sie. Außerdem rief sie zu einer sofortigen Waffenruhe im Nordirak auf und plädierte für einen offenen Dialog zwischen Erbil und Bagdad. Der irakische Regierungschef Haidar al-Abadi hat dies aber bereits abgelehnt. Er beharrt auf eine Annullierung der Volksabstimmung.
Die Autorin berichtet als freie Korrespondentin aus dem Irak.