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Frühkindliche Bildung : »Das Lernfenster schließt sich nicht«

Angebote für Kleinkinder stehen hoch im Kurs, sei es in der Kita oder bei privaten Anbietern. Viele Fähigkeiten können aber auch im Alltag erlernt werden

04.12.2017
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4 Min

Endlich sind die Poolnudeln dran. Ein kleiner Junge - eine leuchtend gelbe Quietscheente zwischen die ersten Zähnchen geklemmt - greift beherzt zu den bunten Schlangen aus Kunststoffschaum. Der Junge neben ihm, wenige Monate alt, beißt neugierig in den weichen Kunststoff hinein. Die Eltern versuchen derweil, die Anweisungen von Kursleiterin Gigi Gäbler zu befolgen, während sie den Nachwuchs auf dem Arm halten und bis zur Brust im Wasser des Schwimmbeckens stehen. Ein Schlauch aus Schwimmnudeln und Verbindungsteilen ist das Ziel, die Kinder sollen möglichst viel selbst übernehmen.

Gerade einmal 30 Minuten dauert eine Kurseinheit bei dem Anbieter Aquaphine in Berlin. Die Kinder übten Koordination und Gleichgewicht, trainierten natürliche Reflexe, erklärt Gäbler. "Wir legen die Babys zum Beispiel auf unsere Handflächen, das stärkt ihre Rumpfmuskulatur."

Das Interesse an Kursen wie diesen ist groß. "Wir haben eine lange Warteliste", sagt Gäbler. Schon die Eltern Neugeborener sollten mehrere Wochen Wartezeit einplanen. Frühkindliche Bildung, also Lernangebote für Kinder bis ins Vorschulalter, ist vielen Eltern wichtig - sei es im Bereich Bewegung, in der Sprachförderung oder in Naturwissenschaften.

Das Interesse an der Bildung auch von Babys und Kleinkindern ist vor allem seit dem Schock, den die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie im Jahr 2001 auslösten, gestiegen. Damals hatten deutsche Schüler im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich abgeschlossen. Die Tester hatten vor allem einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und ihren Chancen in der Schule festgestellt. Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien hatten es deutlich schwerer als ihre Mitschüler.

Enorme Lernfähigkeit Dieser sogenannte Pisa-Schock führte nicht nur zu Schulreformen und möglicherweise zu stärkerem Interesse an Eltern-Kind-Kursen, sondern auch zu noch mehr Bildungsbemühungen in Kindertagesstätten. Und das nicht ohne Grund. Babys und Kleinkinder sind enorm lernfähig. "Jedes Kind kommt mit einer riesigen Begeisterung am Entdecken auf die Welt", sagt Hirnforscher Gerald Hüther. Das Hirn sei noch nicht fertig ausgebildet, "wir müssen erstmal lernen, Mensch zu werden". Eine strenge genetische Determiniertheit, wie sie lange angenommen wurde, gebe es nicht.

Über das richtige Maß an Bildung für Kleinkinder und vor allem über die richtigen Konzepte gibt es nach wie vor unterschiedliche Meinungen. "Die klassische Schulsituation, in der die Lehrkraft Fragen stellt und die Kinder nach Antworten suchen, ist bei Kleinkindern nicht zielführend", sagt Hedwig Gasteiger, Professorin für Mathematikdidaktik der Universität Osnabrück.

Lernen in Alltagssituationen - das ist Gasteigers Herangehensweise. Für die Pädagogen sei das eine große Herausforderung. "Die Fachkräfte brauchen viel Know-how, um zu wissen, wie sie aus einer Alltagssituation eine Lernsituation schaffen können", erklärt Gasteiger. Sie müssen die Kinder richtig einschätzen und deren Entwicklungsstand erkennen. Gasteiger beschreibt dazu ein Experiment, das in einer finnischen Studie durchgeführt wurde: Der Erwachsene füttert eine Puppe mit drei Keksen und ermuntert das Kind, ihn nachzuahmen. "Manche Kinder füttern die Puppe einfach mit einer unbestimmten Zahl an Keksen, andere wählen genau drei aus."

Die Professorin ist überzeugt, dass sich eine kind- und sachgerechte Förderung positiv auf den späteren Schulerfolg auswirken kann. Sie habe etwa eine Studie durchgeführt, bei der Kinder regelmäßig die klassischen Brettspiele Mensch-ärgere-Dich-nicht und Fang-den-Hut spielten. "Wir haben festgestellt, dass die Kinder noch ein Jahr später Vorteile davon hatten." Durch den Würfel erlernten die Kinder etwa, wie sich die Zahlen unterscheiden. Sogar erste Rechenschritte seien möglich.

Kinder, die auf diese Weise gefördert werden, hätten in der Schule bessere Chancen. In Mathematik sei es zudem schwierig, Grundwissen später aufzuholen, weil der Unterrichtsstoff aufeinander aufbaue. "Wissenslücken, die am Anfang entstehen, werden tendenziell größer, weil es kaum Raum gibt, sie später zu schließen."

Bildung über Bindung Doch bei allen Bemühungen, soziale Ungleichheiten, die durch die Herkunft entstehen, in Kitas und Schulen auszugleichen: "Das meiste an Bildung passiert zuhause", sagt Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Gerade bei Kindern unter drei Jahren gelte: "Bildung geht über Bindung." Kinder lernten über ihre Beziehung zu den Erwachsenen.

Er erhalte immer wieder Anfragen von Eltern, wie sie ihre Kinder so fördern könnten, dass sie später keine Nachteile haben. "Ich merke schon, dass es da eine große Verunsicherung gibt." Dabei gehe es um einfache Dinge. Bilderbücher gemeinsam angucken, beim Treppensteigen die Stufen zählen - diese Dinge seien genauso effektiv wie teure Babykurse. Wer zu sehr auf den Lernerfolg seines Nachwuchses dringe, könne ihn auch überfordern, "etwa, wenn ich ungeduldig werde, weil mein Kind einen Turm nicht so gut baut wie ein anderes". Kinder könnten auch später Dinge aufholen. "Es ist nicht so, dass sich da ein Lernfenster schließt."

Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.