Europa : Ein Schwein läuft durch Brüssel
Robert Menasse schreibt den ersten EU-Roman und wirbt für eine Idee
Martin Susman braucht Unterwäsche. Warme Unterwäsche. Denn der Kommunikationschef des Kulturressorts der Europäischen Kommission ist auf dem Weg nach Auschwitz und dort ist es kalt, wie man ihm per Mail aus Polen vorher mitteilte. Ergänzt um den freundlichen Hinweis, sich doch am besten deutsche Unterwäsche für den Besuch zuzulegen. In einem Unterwäsche-Laden in Brüssel klärt ihn die Verkäuferin dann auf: "Das ist aus dem Fell von diesen Kaninchen gemacht, Angora, verstehen Sie? Aber aus Deutschland, das heißt, garantiert ohne Tierquälerei. Und sehen Sie hier, das Zertifikat. Die Wäsche entspricht schon der neuen EU-Richtlinie für Unterwäsche. Es geht um das Brennverhalten der Unterwäsche, das ist jetzt geregelt. Sie darf nicht mehr brennbar sein. EU, verstehen Sie?"
Aber es nützt nichts. Susman kehrt schwer erkältet, dafür aber mit einer brillanten Idee aus Polen zurück. Er will Auschwitz ins Zentrum einer großen Jubiläumsfeier zum 50. Geburtstag der EU-Kommission stellen. "Die Überwindung des Nationalgefühls. Wir sind die Hüter dieser Idee! Und unsere Zeugen sind die Überlebenden von Auschwitz! Das müssen wir klarmachen, dass wir die Institution dieses Anspruchs sind. Die Hüter dieses ewig gültigen Vertrages." Susman, Bruder eines europäischen Schweinelobbyisten, ist begeistert.
Doch er und seine nur auf ihre Karriere bedachte Chefin Fenia Xenopoulou haben nicht mit dem Europäischen Rat als Repräsentant der EU-Länder gerechnet. Da wollen die Polen nicht mit Auschwitz identifiziert werden, weil dies Sache der Deutschen sei. Die Österreicher wollen ihre Nation ebenfalls nicht durch ein deutsches Lager in Frage gestellt sehen und so weiter. So entwickelt sich das Jubel-Projekt zu einem Unruhefaktor innerhalb der Brüsseler EU-Bürokratie und es ist äußerst unterhaltsam und komisch, wie Robert Menasse das Scheitern dieses Projektes an einem zu großen Knäuel von Zuständigkeiten und Befindlichkeiten beschreibt.
Lob der Widersprüche Dabei ist sein Roman "Die Hauptstadt" insgesamt wie auch die Geschichte des Jubel-Projektes keineswegs als Abgesang auf die Europäische Union zu verstehen. Vielmehr erzählt die Geschichte des Scheiterns gleichzeitig davon, wie lebendig die Idee eines geeinten Europas als Bollwerk gegen, oft zerstörerische, Nationalismen auf den EU-Fluren ist. Dass sie aber "leider" auf noch allerlei andere, äußerst lebendige, Interessen stößt, gegen die sich zu verteidigen nicht so einfach ist. Insofern kann man den Roman auch als Lob des Widersprüchlichen lesen.
Geradezu unglaublich einfach ist es, Robert Menasse auf seinen weit verzweigten Erzählsträngen durch Brüssel zu folgen, die alle schließlich zu Auschwitz und damit zur Gründungsidee der EU führen. Menasse spannt dabei einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den Nationen, der Ironie des Schicksals, zwischen kleinlicher Bürokratie und großen Gefühlen. Angefangen von einem mysteriösen Mordfall, dessen einziger Zeuge ein durch die Stadt laufendes Schwein ist. Dann ist da noch die Geschichte des einzigen in Brüssel lebenden Auschwitz-Überlebenden, auf dessen Fährte sich das Jubel-Projekt begibt. Nicht zu vergessen der Wiener Historiker, der als Mitglied eines Think-Tanks in einer Brandrede Auschwitz als künftige europäische Hauptstadt vorschlägt. "Romane sind verrückt", stellt Fenia Xenopoulou fest - und ahnt noch nicht, was auf sie zukommt. Im echten Leben. In Brüssel.