POLITIKER : Massentauglich
Philip Manow über Currywurst, die Gaube des Grauens und den Zwang zur Unauffälligkeit
Es kostete viel Mühe, Ronald Reagan davon abzubringen, bei einem Deutschlandbesuch Helmut Kohl ein Pferd zu schenken. Erst der Hinweis, das Kanzleramt verfüge zwar über begrenzte Weideflächen, aber nicht über Stallungen, überzeugte den US-Präsidenten. Umgekehrt weigerte sich Kohl auf einem G-7-Treffen, dem Drängen Bill Clintons nachzugeben und beim Dinner Cowboystiefel anzuziehen. Dem Kanzler schwante wohl, dass er in Westernkluft auf Zeitungsfotos keine gute Figur abgeben würde.
Gerry Fitt, nordirischer Parlamentarier im britischen Unterhaus, nahm als ersten Drink am Tag stets einen Gin Tonic ohne Eis - weil er wegen seines Katers das Aneinanderschlagen der Eiswürfel im Glas nicht ertragen konnte. Der Labour-Abgeordnete Edwin Wainwright war im Parlament so betrunken, dass er nur noch zusammenhanglos lallen konnte. Dezent vermerkte das Protokoll: "Mr. Wainwright machte eine Reihe von Beobachtungen."
Philip Manow breitet eine Fülle solcher Anekdoten aus. Doch der Bremer Politikprofessor erzählt nicht nur amüsante Stories, sondern durchleuchtet die "dargestellte Politik". Es erscheine "geradezu als eine Hauptaktivität der Politik, sich darzustellen". Was will es uns sagen, wie das politische Personal wohnt, isst, trinkt, sich kleidet, redet, sich frisiert, ja sogar, wie man zu Fuß unterwegs ist? Da das "Mittelmaß" regiert, so des Autors Kernthese, wollen Politiker demonstrieren, dass sie dem "Durchschnittsbürger" verbunden sind.
Meist gelingt es dem Verfasser, mit leichter Feder all die Manöver und Verrenkungen der Politiker beim massenwirksamen Ringen um die Wählergunst aufs Korn zu nehmen. Es sei erstaunlich, schreibt Manow, "wie umstandslos (...) sich das Proletariat vom revolutionären zum höchst verdächtigen Subjekt wandeln konnte" - weil die SPD und andere Parteien im Zuge ihrer "Feminisierung und Vermittelschichtisierung" zusehends moralisierend-asketisch agieren und mit "biertrinkenden Männern aus der Unterschicht" nichts mehr zu tun haben wollen. Die würden dann bei der AfD landen. Dieses Kapitel unter der Überschrift "Hard work, Softdrink", das den "historischen Entzugsprozess" seit Robespierres Tugendterror sprachmächtig aufspießt, zählt zu den Highlights des Buches. Heute geben Leute wie Labour-Führer Jeremy Corbyn mit einem "penetrant bekennerhaften Abstinenzlertum" den Ton an.
Leider siegt hin und wieder der Wissenschaftler über den Feuilletonisten. Dann serviert Manow trockene theoretische Kost. Da bleibt man ratlos mit der Frage zurück, ob Angela Merkels Finger-Raute politisch etwas zu bedeuten hat, wie der Autor meint, oder nicht, wie die Kanzlerin betont.
Viele Beispiele stützen des Verfassers These, treibende Kraft der "dargestellten Politik" sei Anpassung, ja Anbiederung an die Vorlieben der Mittelschicht. Häuser der Politiker zeugten von "architektonischer Spießigkeit" und "gediegener Provinzialität". Über Christian Wulffs Eigenheim in Burgwedel urteilt Manow: "Gaube des Grauens". Das Kulinarische gerät ebenfalls in die Fänge des Unauffälligkeitszwangs. Inszeniert wird das Essen als das "Solide, Bewährte und Bescheidene": Dicke Bohnen (Adenauer), Pichelsteiner Eintopf (Erhard), Saumagen (Kohl), Currywurst (Schröder), Uckermärker Kartoffelsuppe (Merkel). Auch bei Staatsvisiten darf es nicht zu opulent zugehen. Was diplomatische Schnitzer nicht verhindert: Francois Hollande mag keinen Spargel - gleichwohl wurde ihm in Berlin dieses Gemüse vorgesetzt, und dies auch noch mit Sauce hollandaise. Den Vorgaben der "Massenkompatibilität" unterliegt natürlich die Kleidung. Zwar darf Jürgen Trittin seinen Wandel vom KBW-Kämpfer zum Redner beim Bundesverband der Industrie im eleganten Anzug vollziehen. Aber Manow mahnt: "In der Massendemokratie ist der Dandy kein erfolgversprechendes Rollenmodell."
Allzuweit darf man es mit dem Konformismus, mit dem Image des Durchschnittlichen indes nicht treiben. Das gefällt dem Publikum, das seinerseits mit dem Mittelmaßdiktat Politiker unter Druck setzt, dann doch nicht. Es keimt auch die Sehnsucht nach dem Ungeschliffenen, nach Urgesteinen à la Franz-Josef Strauß. Ein heikler Balanceakt. Nicht schlüssig erklären kann Manow allerdings, wieso Donald Trump mit der "schamlosen Demonstration des teuren schlechten Geschmacks" als Kontrastprogramm zum biederen Mainstream Erfolg hat.
Traditionell werden in Krisenzeiten Zehnpunktepläne aufgetischt. Sie gehören zum "Repertoire der politischen Entscheidungssimulaton", ätzt der Autor, es gehe um den "Anschein der Professionalität". Aber warum immer Zehn- und nicht Neun- oder 21-Punktepläne? Ein Rätsel. Schon 1918 kommentierte der französische Premier Georges Clemenceau die 14 Punkte von US-Präsident Woodrow Wilson so: "Der liebe Gott ist doch auch mit zehn ausgekommen."