Die FolgeN : Marsch an die Schalthebel
Auf dem Weg durch die Institutionen haben 68er die Gesellschaft verändert - und sie änderten sich selbst
Spätestens als der einstige Sponti und Straßenkämpfer Joschka Fischer 1998 zum Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik ernannt wurde, schien die Mission erfüllt. Was einst als langer Marsch durch die Institutionen begonnen hatte, sei nun, 30 Jahre später, erfolgreich ans Ziel gekommen, so lautete eine populäre Lesart. Die einstigen Systemgegner besetzten jetzt die Schalthebel des Systems.
Diese Sichtweise war freilich die Folge einer über drei Jahrzehnte immer mehr verwässerten und schließlich vergessenen Interpretation dessen, was Rudi Dutschke 1967 im Sinn hatte, als er die Formel vom langen Marsch durch die Institutionen entwickelte. Im Originalton liest sich das so:
"Heute würden Permanenzrevolutionäre, die in den Fabriken, in den landwirtschaftlichen Großbetrieben, in der Bundeswehr, in der staatlichen Bürokratie systematisch den Laden durcheinanderbringen, von allen Lohnabhängigen vollkommen akzeptiert werden. (...) Den ,Laden in Unordnung bringen' heißt nur, die Lohnabhängigen und andere mehr unterstützen, bei ihnen lernen, neue revolutionäre Fraktionen herauszubrechen. Die Permanenzrevolutionäre können immer wieder hinausgeworfen werden, immer wieder in neue Institutionen eindringen: Das ist der lange Marsch durch die Institutionen."
Doppelstrategie Dutschke ging es also um eine revolutionäre Doppelstrategie nach dem Vorbild lateinamerikanischer Stadtguerilleros. Während eine kämpfende Avantgarde offen die Revolution organisierte, sollte eine verdeckt arbeitende Abteilung in die herrschenden Institutionen eindringen, um sie von innen her zu destabilisieren. Der lange Marsch war als Taktik im "permanenten Kampf für eine antiautoritäre sozialistische Weltgesellschaft" gedacht. Das war doch nun etwas sehr anderes als die ökologisch und sozialliberal orientierte Reformpolitik, mit der die Grünen Ende der 1990er Jahre um Wählerstimmen warben. Der 68er-Forscher Wolfgang Kraushaar machte sich schon früh über den Begriffswandel lustig. Was einmal ein Fanal sein sollte, die Welt aus den Angeln zu heben, wurde, so Kraushaar 2001, eine "Lebensphilosophie für Oberstudienräte, eine Phrase für Philister".
Unbestritten aber ist, dass die als 68er sehr pauschal umschriebenen einstigen Aktivisten der Außerparlamentarischen Opposition auf ihrem Weg durch die Institutionen durchaus eine tiefgreifende Veränderung der bundesdeutschen Verhältnisse bewirkt haben. Jürgen Habermas deutet die 68er- Bewegung heute als Triebfeder für eine "Fundamentalliberalisierung" der Gesellschaft.
Manche sehen in dem Aufbegehren der 68er sogar einen zweiten Gründungsmoment der Bundesrepublik. Auch wenn viele ihrer ideologischen Dogmen von damals Illusion blieben, lässt sich aus heutiger Sicht sagen: Die von ihnen ausgehende Umwälzung war langfristig und umfassend, sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Leben der Bundesdeutschen.
Die Befreiung der Sexualität von vielen Tabus beispielsweise gehört dazu. Das klassische Familienbild vom männlichen Ernährer und der Hausfrau mit zwei Kindern geriet in Zweifel. Eine autonome Frauenbewegung der Feministinnen entstand, die weit über ihr eigentliches Spektrum hinaus die Gesellschaft veränderte (siehe auch Beitrag unten). Alice Schwarzer bestimmte als über Jahrzehnte ziemlich unangefochtene Sprecherin der Feministinnen lange das öffentliche Meinungsbild mit. Dass sie heute zu einem Freundinnenkreis um Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört und als Kolumnistin für das einstige Hauptkampfblatt gegen die APO, Springers "Bild"-Zeitung, gearbeitet hat, ist auch ein Hinweis darauf, wie weit der Marsch durch die Institutionen geführt hat - und wie sehr er nicht nur die Gesellschaft, sondern auch wesentliche Mitmarschierer verändert hat.
Immerhin: Gleichberechtigung ist heute weitgehend selbstverständlich - wenn auch die angemessene Repräsentanz von Frauen in Führungsgremien und Parlamenten oft nur durch Quoten oder gar nicht erreicht ist und gleiche Bezahlung eine noch immer unerfüllte Forderung. In antiautoritären Kindergärten wurden zeitgleich neue Formen der Pädagogik erprobt und Kinder nicht mehr geschlagen, an den Universitäten führten Proteste zum Aufbrechen der verkrusteten, autoritären Strukturen, die Gewerkschaften forderten auch in der Wirtschaft mehr Mitbestimmung; 68er drängten in die Redaktionen, in die Wissenschaft und nicht zuletzt in die Politik.
Sozialliberaler Aufbruch Die sozialliberale Koalition unter Kanzler Willy Brandt und seinem Vize Walter Scheel verstand es nach 1969, den gesellschaftlichen Aufbruch mit zahlreichen Gesetzesreformen und Programmen politisch umzusetzen. Auch weil viele Sympathisanten der Protestbewegung nun in die SPD eintraten und dort Veränderungsdruck erzeugten; andere hatten schon zeitgleich bei der Partei und der APO mitgemischt: Detlev Albers beispielsweise, der 1967 vor der Hamburger Professorenschaft das berühmte Transparent mit dem vielzitierten Parole "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren" hertrug und später SPD-Landeschef in Bremen war, oder spätere Juso-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete wie Karsten Voigt, Wolfgang Roth und Klaus-Uwe Benneter, der einmal Generalsekretär der Partei werden sollte.
Wer dem sozialdemokratischen Weg nicht traute, ging oft zu den Grünen - darunter allerlei Anhänger einstiger K-Gruppen, viele zunächst durchaus noch im Sinne der Unterwanderungsstrategie Rudi Dutschkes unterwegs. Es dauerte gut zehn Jahre, bis der Richtungskampf zwischen den Anhängern einer fundamentalen Opposition ("Fundis") und den auf parlamentarische Partizipation bauenden "Realos" schließlich zu deren Gunsten entschieden war. "Wir wollten aus den Grünen dauerhaft eine systemverändernde Partei machen, die sich als Sand im Getriebe der Gesellschaft versteht und nicht als ihr ökologisches Schmiermittel", sagte Thomas Ebermann, einer der führenden "Fundis", später. Dieses Projekt war gescheitert - und damit auch der Marsch durch die Institutionen, wie er einmal gedacht war.
Zweiter Reformschub Doch auch diese öffentlich geführte Auseinandersetzung war ein Teil jenes großen gesellschaftlichen Diskurses, der die Bundesrepublik bis weit in die 1980er Jahre so verändert hat. Helmut Kohls Ankündigung einer geistig-moralischen Wende war 1982 der Versuch einer konservativen Antwort darauf, der aber ins Leere lief und sich in Blockaden weiterer Reformen erschöpfte. Den Stau löste dann nach 1998 die rot-grüne Koalition mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf, mit denen eine ganze Riege aus dem 68er-Umfeld am Kabinettstisch Platz nahm.
Wie unterschiedliche Wege manche Protagonisten durch die Institutionen führten, zeigten dabei beispielhaft Otto Schily und Christian Ströbele, die einst zusammen RAF-Mitglieder vor Gericht vertraten: Während der eine als SPD-Innenminister den harten "Law-and-Order"-Mann gab, eroberte der andere mit dem Slogan "Ströbele wählen heißt Fischer quälen" das erste Direktmandat der Grünen für den Bundestag, wo er schließlich als "letzter Alt-68er" ("taz") galt.
Gleichviel: Die Republik erlebte einen weiteren Reformschub, etwa mit Blick auf ein modernes Familienbild; die "Homo-Ehe" wurde möglich, und auch konservative Politiker konnten öffentlich zu ihrer Homosexualität stehen, ohne ins Abseits gestellt zu werden. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Kanzlerin einer als konservativ verorteten Partei, Angela Merkel, dann 2017 gleichgeschlechtlichen Partnern den Weg zur völligen Gleichstellung ihre Ehebeziehung öffnete.
Zugleich allerdings beginnt die über Jahrzehnte gewachsene Hegemonie jener zu bröckeln, die sich zur offenen Gesellschaft mit ihrem kulturellen Pluralismus bekennen. Heute stellt die AfD jenen historischen Kompromiss zwischen System und Systemkritik in Frage, der in der Bundesrepublik irgendwann während des Marsches der Kritiker durch die Institutionen erreicht worden war. So hat der Aufbruch der 68er die Bundesrepublik nicht in dem Sinne umgewälzt, wie Rudi Dutschke sich das einst vorgestellt hat. Aber ein sehr anderes Land ist sie doch geworden, eines, das den Revolutionären von damals gewiss sympathischer wäre als jenes, das sie kannten. Und dessen Entwicklung hin zu Emanzipation, Offenheit und Liberalität nun wieder zur Debatte steht.
Der Verfasser ist Autor der DuMont-Hauptstadtredaktion.