aufstand : Monate der Rebellion
Junge Intellektuelle lehnten sich energisch auf gegen den Gestus des Obrigkeitsstaats
Ein Foto macht Geschichte: Eine Frau mit schwarzem Umhang kniet neben dem hingestreckten Körper eines jungen Mannes; mit den Händen hält sie seinen Kopf. In ihrem Gesicht spiegelt sich Entsetzen, der Mund scheint zum Schrei geöffnet. Das Bild vermittelt die ganze Hilflosigkeit des Augenblicks, zugleich die beklemmende Dramatik eines furchtbaren Ereignisses.
Dieses Foto, mehr als 50 Jahre alt, zählt zum ikonischen Gedächtnis der Bundesrepublik. Es dokumentiert den Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am 2. Juni 1967 in West-Berlin. Wer heute über "68" oder die 68er redet, muss eigentlich bei diesem Datum beginnen. Denn es markiert einen Wendepunkt - und dazu hat das Foto wesentlich beigetragen: Die westdeutsche Studentenbewegung, deren Aktionen bislang in der Öffentlichkeit eher nebensächlich beachtet worden waren, geriet zu einem relevanten Faktor für Politik und Gesellschaft.
Blutiges Getümmel Über dem 2. Juni 1967 lag in West-Berlin von Anfang an spürbare Spannung. Der Schah von Persien, Reza Pahlevi, und seine Frau Farah Diba hatten sich zum Staatsbesuch angesagt. Bei der Vorfahrt am Rathaus Schöneberg kam es zum Eklat: Als unter den Schaulustigen studentische Demonstranten mit Plakaten und Parolen gegen das repressive System im Iran protestierten, gingen herbeigekarrte "Jubelperser" mit Holzlatten auf die Menschen los. Bei der Aufführung von Mozarts "Zauberflöte" am Abend in der Deutschen Oper randalierten abermals Studenten, diesmal flogen auch Eier, Tomaten und Steine. Nachdem die Hoheiten mit dem deutschen Präsidentenpaar Heinrich und Wilhelmine Lübke im Opernhaus verschwunden waren, begann das massive Polizeiaufgebot eine brutale Attacke auf die Menschenmenge. Polizeipräsident Erich Duensing beschrieb später die Taktik so: "Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt." In dem blutigen Getümmel zog Karl-Heinz Kurras, Polizeibeamter in Zivil, seine Pistole und schoss. Er traf Ohnesorg am Hinterkopf.
Als dieser zusammensank, beugte sich die Studentin Friederike Dollinger über den 26-Jährigen, der später seinen Verletzungen erlag. Kurras, Waffennarr und nach späterer Erkenntnis Spitzel der ostdeutschen Stasi, argumentierte mit Notwehr - und kam damit bei zwei Prozessen durch.
"Es war ein Schock", erinnert sich Uwe Timm, Schriftsteller und Schulfreund Ohnesorgs, "und erst langsam erreichten mich die Details seines Todes; damit wuchs meine Empörung." Und der damalige Aktivist und spätere Journalist Klaus Hartung spricht von einem Schlüsselereignis. "Warum? Weil sich diese Erfahrung, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, ins Unerträgliche steigerte." Er sieht den 2. Juni als "Wende von der Ohnmacht zur Allmacht". Empörung und Ohnmacht: Diese Empfindungen hatten die Studenten schon zuvor auf die Straßen getrieben. Besonders in den Universitätsstädten, in Berlin, in Frankfurt, München, Hamburg, Köln, Marburg, Göttingen; zu ihren inhaltlichen Anfängen gehörten Forderungen nach Veränderungen in der verkrustet-hierarchischen Hochschulpolitik. "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren" - in diesem Spruchband der Studenten beim Rektoratswechsel an der Universität Hamburg im November 1967 kulminierte der kollektive Frust ganzer Kommilitonen-Generationen.
Kerntruppe der APO Doch allmählich gesellten sich zur Auflehnung gegen die straffen Schichtungen und herrischen Charaktere im universitären Bereich auch Bestrebungen nach einer Überwindung der rückständigen und autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft. Das verstärkte sich 1966 mit der Bildung der Großen Koalition, die Union und SPD vor allem zur Verabschiedung der umstrittenen Notstandsgesetze eingingen. Sie war Auslöser der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO), einem lockeren Bündnis, in der jedoch die Studentenbewegung einen gewichtigen Part spielte. Hier entwickelte sich besonders der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zur organisatorischen und strategischen Kerntruppe der APO. Vormals als sozialdemokratischer Nachwuchsverband gegründet, hatte die SPD-Führung diesen Ableger längst verstoßen, als er sich in den 1960er Jahren in eine linksorientierte und antiautoritäre Gliederung wandelte. West-Berlin bildete eine Hochburg des SDS, nicht zuletzt wegen der charismatischen Führungsfigur Rudi Dutschke. So schien es fast selbstverständlich, dass sich der SDS nach Ohnesorgs Tod in eine leidenschaftliche, gar schneidige Leitfunktion katapultierte: Nun war Revolution angesagt.
Dem Fieber nach radikaler Veränderung war eine beträchtliche Inkubationsphase vorausgegangen. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre wurden die Defizite des restaurativen Gesellschaftsklimas und die patriarchalischen Formen der Herrschaftsausübung, wie sie für die späte Adenauer-Ära kennzeichnend waren, immer spürbarer. Vor allem jüngere Intellektuelle formulierten Widerspruch. Die Kritik entzündete sich oft an der institutionellen Demokratie, in die sich die Bonner Republik recht bequem eingerichtet hatte. Das neue Staatswesen funktionierte von oben, der traditionelle Gestus des deutschen Obrigkeitsstaats feierte wieder fröhliche Urständ. Partizipation und Emanzipation galten als unzulässiger Ehrgeiz, Konflikt und Disput als verwerfliche Untugend.
So mehrten sich die "Vorboten des Wandels". 1962 kam die Bundesregierung mit der "Spiegel"-Affäre in eine Legitimationskrise: Die Polizeiaktion gegen das Magazin mobilisierte massive Gegenkräfte in der Öffentlichkeit, die alle früheren Proteste in den Schatten stellten, etwa die Demonstrationen der 1950er Jahre gegen die Wiederbewaffnung oder die Ostermärsche gegen den "Atomtod". Die Attacke auf die Pressefreiheit, schien es, hatte die kritische Intelligenz wachgeküsst.
Die intellektuelle Szene gewann insgesamt an Relevanz. Der Soziologe Ralf Dahrendorf erregte gehörig Aufsehen mit dem Ruf nach mehr Konfliktbereitschaft und Freiheitsräumen. Der Philosoph Jürgen Habermas mahnte, Demokratie verwirkliche sich erst in einer "Gesellschaft mündiger Menschen". Auch Bildung und Erziehung gerieten unter Beschuss. Der Pädagoge Georg Picht konstatierte eine "Bildungskatastrophe", Dahrendorf forderte: "Bildung ist Bürgerrecht". Die Literatur machte die NS-Zeit und ihre Nachwirkungen zum Sujet, die "Gruppe 47" sah sich als zeitkritischer Impulsgeber.
Tabubruch Das Tabu der NS-Vergangenheit, stillschweigender Konsens der Nachkriegsjahre, wurde gebrochen; mehrere Gerichtsverfahren legten die Massenverbrechen des Nazi-Systems schonungslos offen. Dem Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 folgten der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und ab 1963 die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt. Sie machten einer breiten Öffentlichkeit bewusst, dass die nationalsozialistischen Schandtaten nicht - wie bislang meist geschehen - lediglich einer kleinen Clique um Hitler zugeschoben werden konnten, sondern unter Beteiligung umfangreicher deutscher Tätergruppen geschehen waren.
In diesen Konstellationen formierte sich die 68er-Bewegung. Sie war zugleich Teil eines Generationenkonflikts, der durch viele Industriestaaten schwappte. Vorreiter waren die USA und dort die University of California in Berkeley. Aus einem Streit um Redefreiheit - der farbige Vorkämpfer Malcolm X durfte auf dem Campus nicht sprechen - entwickelte sich eine Kampagne gegen Rassendiskriminierung, den Vietnamkrieg und Benachteiligungen der "Dritten Welt", für Bürgerrechte und Emanzipation. Die Rebellion erfasste andere US-Hochschulen, sprang dann nach Europa über.
Gewalt Zwar verstand sich die deutsche Studentenbewegung als Teil des weltweiten Protestes, gefühlsmäßig wie thematisch, doch stimulierte ein singuläres Merkmal ihren Aktionismus: der Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit, deren Beschweigen und Verdrängen. Die Jüngeren stellten harte, ja rüde Fragen an die Elterngeneration, zu deren Verstrickungen in das Nazi-System und Versäumnissen bei der Aufarbeitung. Das bekam auch Gewicht, weil führende Köpfe der Studentenbewegung Vergleiche zwischen der Gegenwart und der NS-Diktatur zogen, um auf den Fortbestand autoritärer und faschistischer Strukturen zu schließen.
Dabei sollte eine Frage die 68er nicht mehr verlassen, in allen Diskursen und Debatten, und stand auch am Zerfall Ende 1969: die Frage von Gewalt in der politischen Kontroverse. Mit der Radikalisierung nach Ohnesorgs Tod, der Suche nach Aktionsformen jenseits von Provokation und Protest wurden die Grenzziehungen immer undeutlicher, bis zur elenden Unterscheidung zwischen "Gewalt gegen Sachen" und "Gewalt gegen Personen". Aus Revolutionsparolen erwuchsen Allmachtsphantasien.
Diese Linie zog sich vom SDS-Treffen über "Bedingung und Organisation des Widerstandes" im Juni 1967 in Hannover über die umjubelten Auftritte des deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse vom "Ende der Utopie" im Juli 1967 bis zum hoch emotionalen Vietnam-Kongress im Februar 1968. Flugblätter und Publikationen heizten die Stimmung an. Am 2. April 1968 legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze: Die spätere Rote Armee Fraktion (RAF) gab ihren brutalen Einstand auf dem Weg in den mörderischen Terrorismus.
Menetekel Aber auch auf den Straßen steigerte sich die Wut. Als Josef Bachmann, ein junger Arbeiter mit kruden rechtsradikalen Vorstellungen, am 11. April 1968, einem Gründonnerstag, ein Attentat auf Rudi Dutschke vor der Berliner SDS-Zentrale verübte, bebte die Republik. Die anschließenden Oster-Unruhen in vielen westdeutschen Städten wurden als die heftigsten Gewaltausbrüche der Nachkriegszeit registriert. Konservative Politiker sprachen von Bürgerkriegszuständen. "Enteignet Springer" - so lautete die Kampagne von den Studentenführern, die sie vor allem gegen "Bild" betrieben, wegen der schon lange tendenziellen, sogar bösartigen Berichterstattung. Sie erlebte einen exzessiven Höhepunkt: Am Berliner Verlagshaus zersplitterten Scheiben, Zeitungswagen wurden blockiert und angezündet.
Als der Bundestag am 30. Mai 1968 die Notstandsgesetze verabschiedete, verrinnselte langsam der Widerstand. Ein letztes Aufbäumen in Berlin geriet zum Desaster. Als Anfang November Studenten wegen eines Ehrengerichtsverfahrens gegen den linken Anwalt und späteren Rechtsextremisten Horst Mahler aufbegehrten, artete die Konfrontation mit der Polizei in eine Gewaltorgie aus. Zurück blieben 130 verletzte Polizisten und 22 Demonstranten.
Diese "Schlacht am Tegeler Weg" geriet zum denkwürdigen Menetekel: Die Revolution hatte sich verschlissen. Manche Aktivisten sammelten sich in den K-Gruppen sowjetischer oder maoistischer Prägung; andere widmeten sich den neuen sozialen Bewegungen etwa der Umweltschützer, der Feministinnen; der größte Teil trat den "Marsch durch die Institutionen" an, dies vor allem in den Reihen der Sozialdemokratie.
Was brachte 68? Gewiss, der politische Überschwang mit seinen ideologisch-dogmatischen Ansprüchen lief ins Leere, doch spricht der Chronist des "roten Jahrzehnts" von 1967 bis 1977, Gerd Koenen, zu Recht von einer "kleinen deutschen Kulturrevolution". Tatsächlich veränderte sich in den 1970ern das Lebensgefühl im Lande, vor allem bei den Heranwachsenden. Die Biographien verliefen nach anderen Mustern, individuell wie kollektiv. Und politische Reformen lösten so manche Forderung der 68er getreulich ein.
Der Verfasser arbeitet als Journalist und Buchautor in Berlin.