IRAK : Im Umbruch
Die Wahlen bringen eine neue, ungewöhnliche Allianz an die Macht, die das Land tiefgreifend verändern könnte
Im Irak gibt es eine neue Zeitrechnung: vor und nach Daesh, der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Dies zeigt sich besonders deutlich bei den Parlamentswahlen. Eine neue, ungewöhnliche Allianz hat in der vergangenen Woche den Sieg davongetragen. Sa'irun (Vormarsch) erhielt allein in der Hauptstadt Bagdad doppelt so viele Stimmen wie die dahinter liegenden Allianzen, Listen und Gruppierungen. Aber auch landesweit war Sa'irun nicht zu schlagen. Regierungschef Haider al-Abadi wurde mit seiner Sieger-Liste nur Zweiter.
Der schiitische Prediger Moktada al-Sadr ist mit seiner Erneuerungsidee bei den Wählern angekommen. Er paktiert mit sechs völlig unterschiedlichen Parteien, darunter den Kommunisten. Alle verbindet ein gemeinsam verabschiedetes Programm zur Bekämpfung von Korruption, der Erneuerung des politischen Prozesses und vor allem der Verjüngung der Entscheidungsträger. Irak wird ein junges Parlament bekommen. Die Wahlbeteiligung war mit 44,5 Prozent jedoch so niedrig wie noch nie seit dem Sturz Saddam Husseins 2003. Diejenigen, die eine Veränderung der politischen Landschaft wünschen, sind zur Wahl gegangen, Skeptiker und Misstrauische blieben zu Hause. Allerdings hat Sa'irun nur 57 Sitze gewinnen können und muss koalieren.
Debattierclub "Irak tritt in eine neue Phase ein", urteilt der scheidende Parlamentspräsident Salim al-Jaburi. Vier Jahre lang hat der 46-Jährige der Volksvertretung in Bagdad vorgestanden, nun sitzt er auf einem Stuhl in einem fast leeeren Büro - kein Sessel steht hier mehr, keine Fahne hängt. Trotzdem ist er nicht wehmütig, er hat viel erreicht. Aus einem Haus, das jahrelang wie im Dauerschlaf erschien, ist ein reger Debattierclub geworden, gar ein beachtetes Instrument irakischer Politik. Längst sind nicht mehr nur die hohen Apanagen attraktiv, sondern auch die Rolle, die das Parlament spielt. Deshalb bewarben sich bei dieser Wahl mehr als 7.000 Kandidatinnen und Kandidaten um die begehrten 329 Sitze.
Dass das Bürgerbündnis Sa'irun den Sieg davonträgt, hat auch mit dem Parlament zu tun. Drei Tage lang hatten im Mai 2016 Tausende das schwer bewachte Regierungsviertel am westlichen Tigrisufer gestürmt und sich im Parlamentsgebäude niedergelassen: "Alle Macht dem Volke!", lautete die Parole. Um auf die Sitze der Abgeordneten zu gelangen, riss das Volk Betonstehlen ein, überwand Stacheldraht und Sicherheitsschleusen, überrannte Wachen und Bodyguards. Die Sicherheitskräfte ließen die Demonstranten gewähren und weigerten sich, auf Unbewaffnete zu schießen. Moktada al-Sadr verhandelte mit Premier Abadi und Parlamentspräsident al-Jaburi. Die Demonstranten zogen ab. Abadi versprach Reformen und einen entschlossenen Kampf gegen Korruption. Zwei Jahre später sind die Protestler von damals wiedergekommen, legal und friedlich - sie ziehen als Abgeordnete ins Parlament ein.
Abadis Reformbemühungen erwiesen sich als halbherzig. "Der Premierminister kam zu uns mit einem Umschlag und sagte, hier ist mein neues Kabinett", erinnert sich Salim al-Jaburi. "Ich will die gesamte Regierung erneuern. Wir sollten die neue Kabinettsliste debattieren und votieren." Am nächsten Tag sei er erneut gekommen und habe gesagt, er wolle nur die Hälfte der Minister austauschen. Am dritten Tag sollten nur noch drei Minister ausgewechselt werden. Dann habe das Parlament die Sache in die Hand genommen. Der Innenminister sei durch die Abgeordneten befragt und "gegrillt" worden, wie Jaburi sagt. Danach der Finanzminister, der Verteidigungsminister und der Hochschulminister. Gegen alle hätten massive Korruptionsvorwürfe vorgelegen. Beim Außenminister seien die Befragungen dann ins Stocken gekommen. Ibrahim al-Jafari habe zwar freiwillig seinen Rücktritt angeboten, sei dann aber doch im Amt geblieben. Damals begann die Schlacht zur Rückeroberung von Mossul, einst Iraks zweitgrößter Stadt, vom IS. Der Kampf gegen die Korruption rückte in den Hintergrund.
"Im Irak jagte eine Krise die andere", erklärt der Parlamentspräsident das zuweilen unverständliche Chaos. Noch immer ist die Krise zwischen den Kurdengebieten im Norden und dem Rest Iraks nicht beigelegt, obgleich der Konflikt schon seit Jahren schwelt. Durch die Wahlen jetzt scheint dieser etwas abgemildert. "Wir haben einfach keine stabilen Beziehungen, weder innerhalb noch außerhalb des Landes", meint al-Jaburi. "Ich denke, dass wir aber mittlerweile den Kampf gegen das Sektierertum überwunden haben. Dazu hat auch das Parlament beigetragen." Jaburi hat sich politisch schon früh aus einem Sunnitenbündnis herausgelöst, neue Allianzen mit Schiiten und Kurden gesucht. Nicht wenige feindeten ihn dafür an. Er aber war überzeugt, dass die Einheit des Iraks, die erheblich durch die sunnitischen Dschihadisten des IS bedroht war, nur zu retten sei, wenn Politiker jenseits von Ethnien und Religionen agieren. "Ich wollte, dass die Leute für ein Programm und nicht für Araber oder Kurden, Schiiten oder Sunniten stimmen."
Bruch Die neuerliche Entwicklung gibt ihm Recht. Die alte Schiitenallianz, die praktisch seit dem Einmarsch der Amerikaner 2003 die Geschicke des Landes dominierte, ist zerbrochen. Die Kurden sind zersplittert und die Sunniten haben keine eigene Partei mehr, sie sind auf unterschiedliche Blöcke und Allianzen verteilt. Jaburi selbst hat sich dem ersten Übergangspremierminister nach der US-Invasion, Ijad Allawi, angeschlossen, einem Schiit, der aber schon immer Sunniten, Christen und wenige Kurden in seinen Reihen hatte. Sein Bündnis "Watania" ist zwar nur auf einem der hinteren Ränge der Wahlergebnislisten gelandet, wird aber als aussichtsreicher Koalitionspartner für eine künftige Regierung gehandelt.
Bisher war der irakische Präsident stets ein Kurde, der Premier Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit. Doch diesen Machtproporz, den US-Administrator Paul Bremer eingeführt hatte, haben die Iraker abgewählt. Was bleibt ist die Skepsis, ob die alten Strukturen bei der Regierungsbildung nicht doch wieder tragen werden und die zerbrochene Schiitenallianz sich wieder kittet. "Die Schiiten hatten immer viel Unterstützung aus dem Iran", erklärt Jaburi, "wir Sunniten aus Saudi-Arabien und der Türkei." Alle Unterstützer hätten ein anderes Konzept, unterschiedliche Interessen. Noch immer gelte: "Die Iraker dürfen nicht allein regieren."
Die Autorin berichtet als freie Korrespondentin aus dem Irak.