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Demokratie : Die autoritäre Versuchung

Das Modell eines liberalen Staates gerät in immer mehr Nationen unter erheblichen Druck

11.06.2018
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In den Hochzeiten des Kalten Krieges fand ein politisches Deutungsbild eine beachtliche Zustimmung: die Domino-Theorie. In Anlehnung an das Gesellschaftsspiel mit den rechteckigen schwarzen Steinen, so hieß es, könnten aufgrund der massiven Expansion des Sowjetkommunismus in Osteuropa gegen Ende der 1940er Jahre auch westliche Staaten dem roten Totalitarismus reihenweise anheim fallen, durch Unterwanderung der Parteiensysteme, durch Schwächung des Rechtsstaates, durch Destabilisierung der Demokratien.

Bekanntlich verlief die historische Entwicklung in Europa anders. Mit der Implosion des real existierenden Sozialismus und dessen Bündnissystemen 1989/90 erledigten sich Risiken und Befürchtungen einer kommunistischen Umwälzung des Kontinents. Das "Ende der Geschichte" sah damals bereits der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama heraufdämmern, eben durch den Sieg der liberalen Demokratie und der freien Marktwirtschaft über die marxistische Ideologie.

Die kühne Projektion erleidet jedoch in jüngster Zeit immer häufigere und empfindlichere Rückschläge. In einer wachsenden Zahl von Ländern stehen die demokratischen Strukturen zur Disposition, es mehren sich die Staaten mit autoritären und autokratischen Strukturen, verbunden mit populistischen Parteien von rechts wie links, zumeist begleitet von einem stramm nationalistischen Fundus. "Heute werden wir Zeugen des Aufstiegs einer neuen Autoritären Internationalen", kommentierte der in Princeton (US-Bundesstaat New Jersey) lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller im Rückgriff auf historische kommunistische Vorbilder. Er nennt den Vorgang daher eine "Umkehrung von 1989".

Bedrückender Blick Die Belege für diese happige Feststellung sind geradezu erdrückend, wie ein Blick auf die europäische Landkarte schnell zeigt. Im Frühjahr ließ sich Victor Orban mit seiner rechtspopulistischen Fidesz-Partei bei den ungarischen Parlamentswahlen bestätigen. Wenig später tat es ihm Russlands neuer Zar Wladimir Putin gleich. Ende Juni will sich der Autokrat Recep Tayyip Erdogan mit einer neuen Präsidialverfassung zum unumschränkten Potentaten der Türkei wählen lassen. Diese drei Politiker gelten - neben dem massenwirksamen Verbal-Bulldozer Donald Trump mit seinem Premium-Amerikanismus - als Prototypen eines antidemokratischen Backslash und einer autoritär-populistischen Aufrüstung. Doch es bei diesen Beispielen zu belassen, wäre fatal. Denn das Register ist viel länger.

Im Frühjahr 2017 katapultierte sich der Rechtspopulist Geert Wilders bei der niederländischen Parlamentswahl an die zweite Stelle. Marine Le Pen bot bei der Präsidentenwahl in Frankreich Emmanuel Macron selbstbewusst die Stirn. In Wien ging der konservative Jungstar Sebastian Kurz mit dem scharfmacherischen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache eine Koalition ein. Polens unbehaglicher Strippenzieher Jaroslaw Kaczynski treibt mit seiner Partei PiS den Umbau des Staates unaufhörlich weiter, in Verwaltung, Justiz, Kultur, Medien - trotz wiederholter Einsprüche der Europäischen Union. In Tschechien versucht Staatspräsident Milos Zeman seit Monaten, den belasteten Populisten Andrej Babis, nur geschäftsführender Regierungschef, im Parlament mehrheitlich durchzusetzen.

Der slowakische Premier Robert Fico, streng nationalistisch gesinnt, stolperte über den Mord an dem Journalisten Jan Kuciak, der enge Verbindungen von Regierungskreisen zum organisierten Verbrechen aufgedeckt hatte. Ein Bündnis zwischen linken und rechten Populisten regiert in Griechenland; in Spanien bekam die linksorientierte Bewegung Podemos bei der Installation eines sozialistischen Regierungschefs eine Chance. In Skandinavien, einst Hochburg der Sozialdemokratie, geben Populisten längst den Ton an, in Parlamenten wie Regierungen. Dem jahrelangen Wüten und Wühlen von Nigel Farage verdankt Großbritannien letztendlich den Brexit. Der AfD gelang es in Deutschland, sich als stärkste Oppositionspartei im Bundestag zu platzieren.

Italien auf der Kippe Und nun steht, mit der so ungereimt erscheinenden Allianz von rechtspopulistischer Liga und linkspopulistischer Cinque Stelle, sogar Italien auf der Kippe. Da fällt, mit einem jahrzehntelangen Matador des europäischen Demokratisierungs- und Einigungsprozesses nach 1945, schon ein recht wertvoller Domino-Stein. Die autoritäre Versuchung, so will es scheinen, wuchert gleichsam wie ein unaufhaltsames Krebsgeschwür durch die geopolitische Landschaft.

"Immer mehr Menschen werden autokratisch regiert", stellt deshalb auch der jüngste Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung (BTI) fest, der seit vielen Jahren die Qualität des Regierungshandelns untersucht. In Zahlen: Die Bevölkerung in Autokratien stieg im Zeitraum 2003 bis 2017 von 2,3 Milliarden auf 3,3 Milliarden. Dagegen veränderte sich diese Größe in Demokratien kaum, nämlich von 4,0 Milliarden nur auf 4,2 Milliarden. Der Index führt - bei 128 analysierten Staaten - bereits 58 Länder als Autokratien auf. Und dann weitet sich das Spektrum weit über Europa hinaus. China mit seinen repressiven Machtmechanismen und beflissenem Personenkult um Xi Jinping nimmt da zweifellos einen Spitzenplatz ein. Aber der Blick fällt auch auf Staaten wie Thailand, Bangladesch, Libanon, Uganda, Mosambik, Nicaragua, Brasilien und Venezuela. Dieser Negativsaldo, so das Fazit, sei maßgeblich auf "defekte Demokratien" zurückzuführen, "in denen Rechtsstaatlichkeit und politische Beteiligungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt werden".

Der Begriff "defekte Demokratien" erfasst trefflich die Ambivalenz autoritärer Regime. Denn viele so strukturierte Staaten leisten sich nach außen wie innen den schönen Schein pluralistisch-liberaler Ordnungen, mit Parlamenten, Wahlen, Parteien, zuweilen sogar mit einer sichtbaren Gewaltenteilung, auch wenn sie nur formalistischen Charakter besitzt. "Autoritär", darauf hat schon Ralf Dahrendorf hingewiesen, heiße etwas ganz anderes als "totalitär". Autoritarismus sei keine Tyrannei oder Despotie, seine Politik bediene sich nicht ausschließlich der Regression. Autoritäre Regime seien durchaus auch mit einem fürsorglichen Staat vereinbar, klassifizierte der Soziologe bestimmte Herrschaftsformen des kaiserlichen Deutschland. Nur eines sei in solchen Staaten nicht erlaubt: "Die Entfaltung des Untertanen zum vollen Staatsbürger mit allen Rechten dieser Sozialfigur. Seine Basis ist die Unmündigkeit derer, die in ihm leben."

Die Entfaltung zum vollen Staatsbürger: Diese Ambition verbindet sich mit der engen, ja fast schon symbiotischen Verbindung von Liberalismus und Demokratie, die zu den Grundüberzeugungen der westlichen Moderne zählt. Partizipation und Emanzipation durch Freiheits- und Menschenrechte, Toleranz und Minderheitenschutz, Pluralismus und Universalismus bildeten die Eckpunkte demokratischer Ordnungs- und Stabilisierungsbemühungen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrungen mit den totalitären Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus. Sie stellten auch den politischen Impetus des amerikanischen Jahrhunderts dar, das Donald Trump nunmehr abrupt beendet.

Dramatische Folgen Diese so lange unstreitigen Prinzipien erodieren gegenwärtig in Rasanz, und damit schwindet die vermeintlich unzertrennliche Einheit von Liberalismus und Demokratie, nicht zuletzt durch dynamische Exzesse kapitalistischer Finanzwirtschaft. Dieses Auseinanderklaffen "ist genau das, was wir gerade erleben", meint der in Havard (Cambridge, US-Bundesstaat Massachusetts) tätige Politologe Yascha Mounk. Er befürchtet dramatische Folgen, skizziert auch die ersten Effekte vom "Aufstieg der illiberalen Demokratie, einer Demokratie ohne Rechte, und des undemokratischen Liberalismus, von Rechten ohne Demokratie". Nicht von ungefähr will Orban Ungarn in einen "illiberalen, auf nationale Grundlagen gestellten Staat" verwandeln.

Noch anschaulicher wird diese Tendenz durch den politischen Wettersturz in den USA. Der Wahlsieg Trumps dokumentiert, wie stark inzwischen Amerikaner für eine autoritäre Alternative zur liberalen Demokratie empfänglich sind. Zudem belegt der Mann im Weißen Haus mit seinem erratischen Regierungsstil, dass er jegliche Normen von Regeln, Verlässlichkeit und Wahrheit auf den Kopf zu stellen bereit ist.

Liberale Demokratien geraten weltweit immer mehr unter Druck. Die Krise politischer Repräsentation wirft fast zwangsläufig Fragen nach den Legitimationsgrundlagen dieses Ordnungsmodells aus. Angesichts zunehmender Komplexität internationalen Geschehens, mit Begriffen wie Globalisierung, Finanzkrise, Digitalisierung, Transformationszwang, Identitätsbruch grob umschrieben, wachsen Bedenken, ob demokratisch organisierte Staaten wegen der "neuen Unübersichtlichkeit" ihre genuine Steuerungsfähigkeit und notwendige Lösungskompetenz noch nachkommen können. Eine effiziente Regierbarkeit wird mehr und mehr infrage gestellt. Der Befund von Friedbert Rüb, der politische Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, fällt da ziemlich rigoros aus. "Politik hat die Kraft zur Gestaltung der Verhältnisse verloren." Stattdessen treibe Politik mit reaktiven Anpassungskonzepten auf dem Meer kontingenter Probleme, meint er, "ohne Richtung, ohne Kompass, ohne grundlegende Orientierung, allein damit beschäftigt, sich nicht selbst aufzugeben".

 

Wahrer Volkswillen Solche ernüchternden Diagnosen sind nicht mehr abwegig. Es gehört längst zum Kernbestand autoritär-populistischer Diskursvorgaben, dass die liberale Demokratie ein Projekt des Establishments darstellt, eben korrupter Eliten, die nur eigenen Interessen oder fremden Mächten folgen, beraten von illegitimen Experten und unterstützt von einer gewissenlosen "Lügenpresse". Dagegen wird der selbstermächtigte Alleinvertretungsanspruch "Wir sind das Volk" gesetzt, eben nur als getreue Vollstrecker des wahren und authentischen Volkswillens zu agieren. Dieser anti-elitäre Affekt verbindet sich mit starken antipluralistischen Reflexen. Denn zum Volk zählen nur die Mitglieder der eigenen homogenen Kommunität, nicht Minderheiten, nicht Außenseiter, nicht Andere. Der Historiker Ulrich Herbert hat trefflich von "Gemeinschaftsfremden" geredet. Damit spitzt sich das Politikverständnis auf ein Freund-Feind Verhältnis zu, auf das der Staatsrechtler Carl Schmitt den "Begriff des Politischen" gebracht hat. Für Schmitt, der den geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus zuzuordnen ist, bedeutet es "die spezifisch politische Unterscheidung". Sie wird für ihn umso politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkt nähert, der Freund-Feindgruppierung. "Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist."

 

Im Namen der Autorität Das Andere, eben im Denken, im Handeln, im Glauben, im Träumen: Mit dieser Abgrenzung, ja Ausgrenzung, wird ein Wesensmerkmal der Demokratie ausdrücklich negiert, nämlich die Möglichkeit und Fähigkeit zu Ausgleich und Kompromiss, gerade im Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten. Deshalb könne der autoritäre Charakter, so meint der Historiker Volker Weiß, der sich intensiv mit der Neuen Rechten und deren identitäres Umfeld in Deutschland beschäftigt hat, "die Welt nur in den Modi des Ernstfalls und des Ausnahmezustands" sehen, eine Perspektive, die ihn Schritt für Schritt aus dem Rahmen von Humanismus und Aufklärung herausführe. "Es kommt zur Revolte nicht gegen, sondern im Namen der Autorität."

Die Ergebnisse eines solchen Weges sind hinreichend bekannt. Autoritäre Regime unternehmen intensive Versuche, ihre Gesellschaften unter Kontrolle zu bringen. Vier Kategorien geraten besonders in den Fokus: Einschränkung, gar Abschaffung der unabhängigen Justiz; Schmälerung, sogar Ausschaltung der Medienfreiheit; Manipulationen des Wahlrechts; einseitige Ämterpatronage mit Oligarchiebildung und Korruptionsanfälligkeit. Zugleich verlagern sich Entscheidungen extrem von der Legislative auf die Exekutive. So schaffe sich ein solches System, meint Jan-Werner Müller, "letztlich genau das Volk, in dessen Namen es immer bereits gesprochen und agiert hat". Präsident Trump ist fast täglich mit solcher Zielsetzung unterwegs.

Francis Fukuyama hat kürzlich in einem Interview darauf bestanden, dass im Trend zu autoritären Regimen nicht das Ende der Geschichte liege. Denn es sei extrem voreilig, das Modell der liberalen Demokratie für beendet zu erklären. "Meiner Ansicht nach wird es sich wahrscheinlich selbst korrigieren." Es bleibt zu hoffen, dass der amerikanische Professor diesmal mit seiner Prognose recht behält.

 

Der Autor ist Publizist und

Journalist in Berlin.