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Wendezeit : Deutscher Umsturz

Nach dem erstaunlich unblutigen Ende der Monarchie drifteten die sozialistischen Kräfte in Deutschland zunehmend auseinander

23.07.2018
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Mehr als 100.000 Menschen folgten am 7. November 1918 in München dem gemeinsamen Aufruf der SPD und ihrer linkeren Abspaltung, der "unabhängigen" Sozialdemokraten (USPD) zu einer großen Friedensdemonstration und forderten auf der Theresienwiese die Beendigung des Krieges, Abdankung des Kaisers, Demokratisierung Deutschlands und Einführung des Achtstundentags. Anschließend stürmte eine sehr viel kleinere Gruppe mit Kurt Eisner (USPD), der als Anführer des Streiks im Januar 1918 enorm populär geworden war, die Kasernen der Stadt; noch in der Nacht rief Eisner den "Freistaat Bayern" aus und erklärte König Ludwig III. für abgesetzt. Im Bayerischen Landtag konstituierte sich ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat; Eisner wurde Ministerpräsident und Außenminister des Freistaats Bayern.

Der Wittelsbacher war nur der erste deutsche Monarch, der im November vor 100 Jahren seine Krone verlor. Innerhalb weniger Tagen waren alle 22 gekrönten Häupter, die in Deutschland bis dahin regiert hatten, abgesetzt oder zurückgetreten. Die Revolution hatte in Deutschland gesiegt, fast ohne auf Widerstand zu stoßen.

Kaiser Wilhelm II. hatte sich schon am 29. Oktober in das Große Hauptquartier im belgischen Spa begeben. Inzwischen forderten nicht nur die Fortschrittliche Volkspartei und die SPD, sondern auch das Zentrum seine Abdankung. Dennoch zögerte er und überlegte, nur als Kaiser, nicht aber als preußischer König und Oberbefehlshaber des Heeres zurückzutreten, sodass Reichskanzler Prinz Max von Baden schließlich gezwungen war, Wilhelms Abdankung am 9. November ohne Autorisierung bekanntzugeben. Wilhelm II. fuhr am nächsten Morgen über die Grenze und begab er sich in die Hände der niederländischen Regierung, die ihm Asyl gewährte.

Noch am 9. November übertrug Prinz Max Friedrich Ebert als Vorsitzendem der größten Reichstagsfraktion das Amt des Reichskanzlers, da er selbst seine Mission als erfüllt ansah. Man verständigte sich darauf, dass eine Nationalversammlung über die Frage der künftigen Staatsform entscheiden solle. Um 14 Uhr rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann dennoch vor dem Reichstag die deutsche Republik aus, sehr zum Ärger Eberts. Zwei Stunden später propagierte der Spartakist Karl Liebknecht von einem Balkon des Berliner Stadtschlosses "die freie sozialistische Republik".

Neue Regierung Ebert entschloss sich angesichts der revolutionären Situation zu Verhandlungen mit der USPD über die Bildung einer rein sozialistischen Regierung, wobei allerdings die bisherigen Staatssekretäre im Amt blieben. Am 10. November konstituierte sich der "Rat der Volksbeauftragten". Ihm gehörten von Seiten der SPD Ebert, Scheidemann und Otto Landsberg an, für die USPD die eher gemäßigten Hugo Haase und Wilhelm Dittmann sowie der Radikale Emil Barth, der auch bei den "Revolutionären Obleuten" - unabhängigen Vertrauensleuten in den Betrieben - eine führende Rolle spielte. Generalleutnant Wilhelm Groener, seit Ludendorffs Entlassung faktisch Chef der Obersten Heeresleitung, versicherte Ebert am 10. November in einem Telefongespräch, dass das Heer sich der neuen Regierung unterstellt. Dieser sogenannte Ebert-Groener-Pakt trug erheblich zur Konsolidierung der neuen Regierung bei.

Im Zirkus Busch versammelten sich an diesem Tag mehr als 3.000 Delegierte der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und wählten einen "Vollzugsrat". In dessen Auftrag sollte die neue Regierung die von den Arbeiter- und Soldatenräten formulierten Ziele umsetzen, doch von dieser Erwartung emanzipierte sich der Rat der Volksbeauftragten sehr rasch. Dominierende Figur war Friederich Ebert, der durch das zusätzliche Amt des Reichskanzlers mit Prestige und administrativen Möglichkeiten ausgestattet war. Diese Personalunion brach der Gefahr einer Doppelherrschaft von Regierung und Räten, wie es sie 1917 in Russland gab, von vornherein die Spitze ab.

Die Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten waren formal den Staatssekretären, die bisher die verschiedenen Reichsämter geleitet hatten, übergeordnet, de facto aber auf deren Sachkenntnisse angewiesen. Die Sozialdemokraten waren hier gegenüber den Volksbeauftragten der USPD im Vorteil, weil die Ministerialbeamten viel lieber mit ihnen zusammenarbeiteten. Zudem sicherte sich die SPD die wichtigsten Ressorts. Der Rat der Volksbeauftragten nahm sehr rasch seine Arbeit auf und erließ eine Vielzahl von Gesetzen und Anordnungen. Das betraf klassische Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, vor allem aber das Gebiet der Sozialpolitik. So wurde zum 1. Januar 1919 der achtstündige Normalarbeitstag eingeführt. Den Gewerkschaften brachte am 15. November das "Stinnes-Legien-Abkommen", benannt nach den Verhandlungsführern, die Anerkennung der Arbeitgeber als "berufene Vertretung der Arbeiterschaft".

Derweil hatte am 11. November der Erste Weltkrieg nach mehr als vier Jahren und Millionen Toten mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne nördlich von Paris ein Ende gefunden. Der vierköpfigen Delegation Deutschlands unter der Leitung des Zentrum-Politikers Matthias Erzberger, der inzwischen Staatssekretär geworden war, trat der französische Marschall Ferdinand Foch gegenüber, seit März 1918 Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte an der Westfront. Erzberger, der die Bestimmungen der Waffenstillstandsvereinbarung außerordentlich hart fand, hielt Rücksprache mit Ebert, der ihm die Weisung erteilte, zu jedweden Bedingungen zu unterschreiben. Auch Paul von Hindenburg, der 1916 zusammen mit Ludendorff die Oberste Heeresleitung übernommen hatte, drängte auf die Unterzeichung. Die Grundintention der Siegermächte war, dass Deutschland künftig nicht mehr angriffsfähig sein sollte.

Der Dezember 1918 war die Phase des Übergangs zwischen der erstaunlich unblutigen Novemberrevolution und den gewaltsamen Konfrontationen im Januar 1919. Am 6. Dezember kam es in Berlin zu einer grauenvollen Schießerei, bei der innerhalb von wenigen Minuten ein Blutbad angerichtet wurde. Gardefüsiliere schossen an der Kreuzung Chausseestraße/Invalidenstraße auf demonstrierende Soldaten und Matrosen, töten 16 und verletzen etwa 80, davon zwölf schwer. Es gingen Ereignisse voraus, deren Hintergrund nie wirklich aufgeklärt werden konnte. Eine Gruppe schwerbewaffneter Soldaten, die Ebert nötigte, die Reichskanzlei zu verlassen und auf die Straße zu kommen, wollte ihn zum Reichspräsidenten ausrufen, was er ablehnte. Zeitgleich wurde der Vollzugsrat vor-übergehend verhaftet. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dies ein rechter Putschversuch zur Entmachtung des Arbeiter- und Soldatenrates war. Wer den Schießbefehl erteilt hat, konnte nie geklärt werden. An dem darauffolgenden Wochenende kam es zu zahllosen Demonstrationen der verschiedenen politischen Lager, die nun immer deutlicher auseinanderstrebten.

Die Spartakisten arbeiteten zunehmend auf die Gründung einer eigenen politischen Partei hin, nachdem sie bei dem ersten Reichsrätekongress eine herbe Niederlage erlitten hatten. Der Antrag von Ernst Däumig (USPD), das Rätesystem zur Grundlage der Verfassung einer deutschen sozialistischen Republik zu machen, wurde von den Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte aus dem ganzen Reich mit 344 gegen 89 Stimmen abgelehnt. Dagegen wurde der Antrag von Max Cohen (SPD), am 19. Januar 1919 eine Nationalversammlung zu wählen, mit einem sogar noch eindeutigeren Stimmenverhältnis angenommen.

Kurz darauf, am 23. Dezember, befahl der Rat der Volksbeauftragten der Volksmarinedivision den Abzug aus Berlin und die Reduzierung ihrer Truppenstärke. Doch die Volksmarinedivision, die außerdem noch offene Soldforderungen hatte, zog nicht ab, sondern brachte die Reichskanzlei in ihre Gewalt. Am Tag darauf kam es zu heftigen Kämpfen zwischen Truppen, die Generalleutnant Groener auf Eberts Bitte in die Stadt entsandt hatte, und den Matrosen der Volksmarinedivision, die im Berliner Schloss ihr Hauptquartier hatten und den Berliner Stadtkommandanten Otto Wels im Marstall als Geisel hielten. Die im Häuserkampf unerfahrenen Frontsoldaten erlitten dabei erhebliche Verluste. Die Volksmarinedivision blieb erhalten, erhielt ihren Sold und Wels musste am 27. Dezember zurücktreten. Nach diesen Ereignissen verließen die Vertreter der USPD den Rat der Volksbeauftragten. Stattdessen kamen am 28. Dezember die Sozialdemokraten Gustav Noske und Rudolf Wissell hinzu. Noske erhielt den Befehl, eine bewaffnete Macht zur Verteidigung der Regierung aufzubauen und dabei verstärkt auch auf Freikorps zu setzen. Er nahm diesen Auftrag an mit den berühmt gewordenen Worten "Einer muss der Bluthund sein".

Januaraufstand Am 4. Januar 1919 wurde der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn abgesetzt, weil er während der Weihnachtskämpfe mit den revolutionären Matrosen kollaboriert hatte. Seine Absetzung wurde von den revolutionären Kräften als große Provokation empfunden. Die Zentrale der am 31. Dezember gegründeten KPD warnte davor, die Machtübernahme anzustreben, weil dafür die Machtbasis im Land fehlte. Riesige Massendemonstrationen am folgenden Tag führten zu einem Stimmungsumschwung und am Abend beschloss eine Versammlung von etwa 70 Revolutionären Obleuten und dem Zentralvorstand der Berliner USPD mit großer Mehrheit, den Kampf um die Macht aufzunehmen. Ein Revolutionsausschuss erklärte den Rat der Volksbeauftragten für abgesetzt. Daraufhin rief die SPD ihre Anhänger in die Wilhelmstraße, wo sie durch ihre Präsenz die Regierung schützen sollten. Der Rat der Volksbeauftragten beschloss die Organisation loyaler militärischer Verbände, wobei er auch mit den Freikorps zusammenarbeitete. Am 8. Januar begann die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands, wobei die Regierungstruppen von Gustav Noske befehligt wurden. Vor allem um das von den Aufständischen besetzte Zeitungsviertel wurde erbittert gekämpft.

Nach der Einnahme des Polizeipräsidiums brach der unzureichend vorbereitete Aufstand rasch zusammen. Er forderte insgesamt 165 Todesopfer. Für die Weimarer Republik war die Klärung des grundsätzlichen politischen Zielkonflikts zwischen SPD und KPD - parlamentarische Demokratie oder sozialistische Räterepublik - einerseits eine notwendige Existenzbedingung, andererseits eine schwere Belastung.

So wie es der im Dezember 1918 tagende Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte beschlossen hatte, wurde am 19. Januar 1919 die Nationalversammlung gewählt. (Siehe Seite 7). Es gab nun erstmals ein von allen erwachsenen Deutschen frei gewähltes Parlament. Man konnte den Eindruck großer Stabilität gewinnen, doch der relativierte sich rasch. Schon bei den ersten regulären Reichstagswahlen im Juni 1920 erreichten die Parteien der "Weimarer Koalition", die noch im Jahr zuvor über eine Dreiviertel-Mehrheit verfügt hatten, nicht einmal mehr die einfache Mehrheit der Stimmen, während die beiden Parteien am rechten Rand ihren Stimmenanteil glatt verdoppelten. Tatsächlich erwiesen sich die Verhältnisse als wenig stabil. In den 14 Jahren der Weimarer Republik wurde acht Mal der Reichstag gewählt und es gab 20 verschiedene Regierungen.

Der Autor ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.