bündnisverteidigung : Auf dem Weg nach Osten
Großmanöver gehören wieder zum Straßenbild. Risiko des »eingefrorenen« Ukraine-Konflikts
Amerikanische Militärfahrzeuge, die auf deutschen Straßen in Konvois unterwegs nach Osten sind: Dieses ungewohnte Bild bot sich Autofahrern im vergangenen Juni in zahlreichen Bundesländern. Ein Teil der Kolonnen, die 3.000 Mann starke "Ironhorse-Brigade", war in Antwerpen auf dem Seeweg eingetroffen und durchquerte nun Deutschland, um in Polen die "Dagger-Brigade" nach ihrem neunmonatigen Einsatz abzulösen. Ihr Marschziel hätte sie auch einfacher und schneller erreichen können, wäre man statt in einem belgischen direkt in einem polnischen Hafen an Land gegangen. Man zog es jedoch vor, die Ablösung in Form der Verlegeübung "Atlantic Resolve" vorzunehmen, in der trainiert wird, wie in einem Ernstfall amerikanische Verstärkungskräfte möglichst schnell an Konfliktschauplätze im Osten Europas herangeführt werden können. Weitere amerikanische Truppen hatten sich im gleichen Zeitraum von Standorten in Süddeutschland nach Osten aufgemacht, um in Polen und den baltischen Staaten an der Nato-Großübung "Saber Strike" teilzunehmen.
Wieder Großmanöver Ein Vierteljahrhundert lang hatte man in Europa geglaubt, dass Manöver dieser Art und Größenordnung der Geschichte angehören würden. Der Kommunismus in Ostmittel- und Osteuropa war überwunden. Der Warschauer Pakt hatte sich aufgelöst. Die Sowjetunion war zerfallen. Die Nato wuchs um immer neue Mitglieder bis hin zu ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie sah sich in der neuen Rolle des Garanten einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung. In deutscher Lesart hieß dies, dass man nur noch von Freunden und Partnern umgeben sei. Die verteidigungspolitischen Grundlagenpapiere dieser Jahre leugneten zwar keineswegs, dass Szenarien der Landes- und Bündnisverteidigung prinzipiell nicht ausgeschlossen werden könnten. Man stufte sie jedoch als höchst unwahrscheinlich ein. Guten Gewissens ließ sich der Schwerpunkt der Streitkräfteplanung bei schrumpfenden Budgets und Personalstärken auf Auslandseinsätze wie in Afghanistan, am Horn von Afrika oder auf dem westlichen Balkan legen.
Die soeben in Kraft getretene "Konzeption der Bundeswehr" spricht eine andere Sprache. Landes- und Bündnisverteidigung haben wieder einen zentralen Stellenwert. Damit gibt das Grundlagendokument für die Planung der deutschen Streitkräfte allerdings keine gänzlich neue Richtung vor. Es fixiert bloß, was bereits seit vier Jahren mehr und mehr die militärische Praxis ausmacht. Auf dem Gipfel von Wales hatten die Nato-Mitglieder im September 2014 ihre Schlussfolgerungen aus der Ukraine-Krise gezogen und sich zu einer neuen Strategie gegenüber Russland durchgerungen. Seither steht das Ziel im Vordergrund, die militärischen Fähigkeiten des Bündnisses so zu stärken, dass die Beistandsverpflichtung gemäß Artikel V des Nato-Vertrages jedem potentiellen Aggressor als glaubwürdig erscheinen muss und ihn daher von Feindseligkeiten abschreckt.
Der Kurswechsel war die Konsequenz einer Entfremdung zwischen Russland und der Nato, die sich seit mehreren Jahren abzeichnete. Bereits der harsche Auftritt von Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 konnte als Indiz dafür aufgefasst werden, dass an eine vertrauensvolle Partnerschaft mit Moskau nicht länger zu denken war. Der Einmarsch Russlands in Georgien im Jahr darauf bestätigte dies auf dramatische Weise. Das Vorgehen gegen die Ukraine weitere sechs Jahre später konnte daher nicht überraschen, auch wenn mit der Entschlossenheit Moskaus, die Eskalation so weit zu treiben, nicht unbedingt zu rechnen war.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim und der in zynischer Offenheit betriebenen Unterstützung von separatistischen Bürgerkriegsmilizen im Osten und Südosten der Ukraine wurde eine rote Linie überschritten. Der Nato blieb keine andere Wahl, als die alte Abschreckungslogik des Kalten Krieges erneut zu bemühen.
Bereits die Einmütigkeit, die das Bündnis hierbei an den Tag legte, dürfte das Kalkül des Kremls durchkreuzt haben, schien es doch auch zahlreichen Kritikern im Westen zu einem bloß noch zu unverbindlichen Resolutionen fähigen Papiertiger verkommen. Doch auch die Nato-Mitglieder, die weit außerhalb der Reichweite möglicher russischer Aggressionen liegen, ließen es nicht an Solidarität mit jenen mangeln, die solche befürchten müssen. Insbesondere die baltische Staaten leben als ehemalige Sowjetrepubliken (und auch Bestandteil des einstigen Zarenreiches) unter dem Damoklesschwert, dass Russland ihnen gegenüber Sonderrechte im Sinne der Doktrin des "nahes Auslandes" beanspruchen könnte - zumal in Estland und Lettland auch noch eine starke russischsprachige Minorität mit teilweise eingeschränkten Bürgerrechten lebt, zu deren Schutz sich Moskau berufen fühlen könnte. Das Gros der Maßnahmen, die der 2014 beschlossene und auf dem Warschauer Gipfel von 2016 verfeinerte und ergänzte "Readiness Action Plan" der NATO vorsieht, verfolgt daher das Ziel, die Verteidigung des Baltikums und darüber hinaus Polens als eine Aufgabe des gesamten Bündnisses deutlich zu machen. Für die betroffenen Staaten war und ist es dabei wichtig, dass gerade die USA Verantwortung übernehmen. Unter der Präsidentschaft Barack Obamas war der Eindruck entstanden, dass ihr Interesse an Europa nachlasse und sie sich stattdessen Ostasien zuwenden würden. Obamas Nachfolger Donald Trump ließ durch irritierende Bemerkungen die Befürchtung aufkommen, die Amerikaner würden die Nato insgesamt in Frage stellen und sich möglicherweise aus der transatlantischen Solidarität verabschieden. Dazu ist es allerdings nicht gekommen. Die US-Streitkräfte sind eine tragende Säule des verstärkten Engagements der Nato im Osten des Bündnisgebietes.
Deutscher Beitrag Auch die Bundeswehr leistet hier einen zentralen Beitrag, der sie an die Grenze ihrer heutigen Möglichkeiten führt. Im Rahmen der auf dem Warschauer Gipfel im Juli 2016 beschlossenen Initiative "Enhanced Forward Presence" setzt die Nato vier multinationale Kampftruppen in einer Stärke von jeweils knapp über 1.000 Soldatinnen und Soldaten in Estland, Lettland, Litauen und Polen ein. Die "Nato-Battlegroup Lithuania" wird durch Deutschland geführt; die Bundeswehr stellt nahezu die Hälfte ihres Personals.
Verstärkt hat die Bundeswehr auch ihre Beteiligung am Multinationalen Korps Nordost, das im polnischen Stettin stationiert ist und die Aufgabe eines Hauptquartiers für Landoperationen an der Nordostflanke des Bündnisses übernehmen kann. Ab September sind Eurofighter der Luftwaffe von der estnischen Basis Ämari aus erneut an der Luftraumüberwachung im Baltikum beteiligt. Die Deutsche Marine wird ab 2019 in Rostock ein Baltic Maritim Component Command (Marinekommando Ostsee) aufbauen, das in der Mitte des nächsten Jahrzehnts einsatzbereit und zur Führung von Seeoperationen der Nato (und der EU) befähigt sein soll. In Ulm entsteht zur Zeit unter Federführung der Streitkräftebasis ein "Joint Support and Enabling Command" der Nato, das Truppenverlegungen koordinieren und Übungen gestalten soll.
Eine besonders anspruchsvolle Aufgabe übernimmt das Heer bereits zur Jahreswende mit der Verantwortung für die Landkomponente der "Nato-Speerspitze". Diese "Very High Readiness Joint Task Force" (VJTF) hat als brigadeähnlicher Großverband eine Personalstärke von etwa 8.000 Soldatinnen und Soldaten; knapp die Hälfte stellt die Bundeswehr. Die Anforderung an die Bereitschaft ist hoch. Die VJTF soll im Bedarfsfall innerhalb von 48 bis 72 Stunden an jedem Ort sein, an dem sie benötigt wird. Problematisch ist noch die materielle Ausstattung der deutschen Truppenteile. Das Heer muss Ausrüstung aus anderen Bereichen abziehen, um die VJTF-Kräfte vollständig auszurüsten. Dieser Engpass soll aber bis 2023 überwunden sein. Voraussetzung dafür ist, dass der Verteidigungshaushalt tatsächlich, wie geplant, weiter steigt. Diese "Trendwende Finanzen" beschränkt sich nicht auf Deutschland. Nahezu alle Nato-Partner geben mehr Geld für ihre Streitkräfte aus, auch wenn sie von dem von Donald Trump eingeforderten Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes in Verteidigung zu investieren, weit entfernt sind (und bleiben). Die Größenordnung von drei und mehr Prozent, die vor 1989 üblich war, steht sowieso nicht zur Debatte.
Von einem neuen "Kalten Krieg" zu sprechen, ist aber nicht bloß unter diesem Gesichtspunkt fragwürdig. Das heutige Russland ist nicht die Sowjetunion, und einen Warschauer Pakt gibt es auch nicht mehr. Wir haben es aber in der Ukraine mit einem weiteren "frozen conflict" zu tun, einem eingefrorenen Konflikt, für den eine Lösung nicht in Sicht ist. Dies ist zwar kein neuer "Kalter Krieg", aber problematisch genug.