koalition : Schwarz-rotes Beben
Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen erschüttern die Bundespolitik
Angela Merkel zauderte nicht. Während Horst Seehofer nach der CSU-Wahlpleite in Bayern die parteiinterne Debatte über personelle Konsequenzen um Wochen hinauszögerte, sorgte die Bundeskanzlerin schon am Tag nach dem CDU-Absturz in Hessen für Klarheit: Bundespolitisch könne man nach diesen Wahlen und den "Verwerfungen zwischen CDU und CSU im Sommer" nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sagte Merkel und kündigte ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz an - nach 18 Jahren. Weniger als jeder vierte Wahlberechtigte in Deutschland durfte am 14. und 28. Oktober seine Stimme abgeben - doch die Landtagswahlen in Bayern und Hessen lösten ein bundespolitisches Beben aus, dessen Erschütterungen lange nachwirken werden.
Einbußen In beiden Ländern mussten die Unionsparteien herbe Verluste hinnehmen. In Bayern brach die CSU um 10,5 Prozentpunkte auf 37,2 Prozent ein - das schwächste Resultat seit 1950. In Hessen büßte die CDU 11,3 Punkte ein und schnitt mit 27,0 Prozent so schlecht ab wie seit 1966 nicht. Die erste Reaktion der beiden Spitzenkandidaten, der Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und Volker Bouffier (CDU), an den Wahlabenden fiel identisch aus: Beide sprachen von schmerzhaften Verlusten und Demut, beide richteten den Zeigefinger auf die Bundespolitik. Der Wahlkampf sei stark überlagert gewesen vom Erscheinungsbild der Großen Koalition, betonte Bouffier. Die Menschen wünschten sich von den Berliner Regierungsparteien "weniger Streit, mehr Sachorientierung, mehr Lösung".
Auf die Große Koalition in Berlin verwiesen auch die SPD-Spitzenkandidaten. "Wir haben keinen Rückenwind bekommen", stellte in München Spitzenkandidatin Natascha Kohnen fest, über "Sturmböen im Gesicht" klagte in Wiesbaden SPD-Landespartei- und Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel. Die Sozialdemokraten stürzten in beiden Ländern auf historische Tiefstwerte ab: In Bayern auf 9,7 Prozent (-11,0 Punkte), in Hessen auf 19,8 Prozent (-10,9 Punkte). "Die Sozialdemokratie steckt in einer tiefen Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise", sagte Schäfer-Gümbel. Juso-Bundeschef Kevin Kühnert, der vehement gegen die Neuauflage von Schwarz-Rot gekämpft hatte, befeuerte die Debatte noch in der Wahlnacht mit einem Tweet wieder neu: "Das Urteil über diese Groko ist final gesprochen."
Auch die Kanzlerin kritisierte zwar das "inakzeptable" Bild, das die Bundesregierung abgebe, attestierte ihr aber eine sehr ordentliche Sacharbeit. Es wäre ihrer Meinung nach "ein Treppenwitz der Geschichte", bräche man schon nach gut sechs Monaten den Stab über der Regierung. Merkel gibt zwar den CDU-Vorsitz ab, an der Koalition mit den Sozialdemokraten aber hält sie fest: Sie will bis zum Ende der Legislaturperiode Bundeskanzlerin bleiben und sich erst 2021 aus der Spitzenpolitik zurückziehen. Ein Wagnis, räumte sie selbst ein - hatte sie doch immer die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft ausgeschlossen. Die Koalition solle sich aber "auf endlich gutes Regieren" konzentrieren können, so begründete sie ihr Umdenken.
Die CDU konzentriert sich nun darauf, die Nachfolge an der Parteispitze zu regeln. Zwölf Bewerber gibt es, unter ihnen CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn. Auch Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz warf nach neun Jahren Polit-Abstinenz seinen Hut in den Ring. Auf einer Klausurtagung verständigten sich Präsidium und Bundesvorstand auf das Prozedere: Die Kandidaten sollen sich vor dem Parteitag, der Anfang Dezember in Hamburg stattfindet, auf acht Regionalkonferenzen der Basis vorstellen.
Die SPD hat ihren Vorsitzenden in den vergangenen 20 Monaten schon zweimal ausgetauscht. Eine neue Personaldebatte versucht die Parteispitze, die zeitgleich mit der CDU in Klausur ging, unbedingt zu vermeiden. Nach den Beratungen trat eine demonstrativ lächelnde Führungsriege vor die Presse - wild entschlossen, Zuversicht zu verbreiten. "Wir haben uns untergehakt, wir setzen auf die Kraft des Zusammenhalts", verkündete SPD-Chefin Andrea Nahles. Über einen Sonderparteitag zur Zukunft der SPD und der Koalition sei zwar abgestimmt worden, eine große Mehrheit sei aber dagegen gewesen. Und ein Ausstieg aus der Groko? "War gar kein Thema." Doch Nahles bleibt unter Druck - auch, weil die SPD-Umfragewerte weiter in den Keller rutschen. Der Fortbestand der Koalition scheint nach dem bayerisch-hessischen Beben längst nicht ausgemacht. Zum Groko-Prüfstein könnte auch die Chemie zwischen der Kanzlerin und der oder dem neuen CDU-Vorsitzenden werden. Mit Kramp-Karrenbauer könnte Merkel wohl geräuschlos zusammenarbeiten - aber mit Spahn? Oder gar mit Merz, den mit Merkel eine tiefe Abneigung verbindet? Und sollte die Doppelspitze nicht funktionieren - würde Schwarz-Rot auch mit einem Kanzler Merz oder Spahn fortbestehen? Vor diesem Hintergrund erhalten auch Spekulationen über eine Neuauflage der 2017 gescheiterten Jamaika-Verhandlungen neue Nahrung.
Derweil zeichnet sich auch an der CSU-Spitze Bewegung ab. Offiziell haben die Christsozialen ihre Wahlanalyse noch nicht gestartet, der Fahrplan lautet: erst die Regierungsbildung in Bayern, dann die Diskussion über Konsequenzen aus der Wahl. Vergangene Woche hat sich der bisher größte Bayerische Landtag der Nachkriegsgeschichte konstituiert und wählte Ilse Aigner (CSU) zur Präsidentin. Söder wurde als Ministerpräsident bestätigt. Er hat einen Koalitionsvertrag mit den Freien Wählern in der Tasche, mit dem er fast so weiterregieren kann wie während der CSU-Alleinherrschaft.
Diese Woche nun will sich Seehofer zu seiner Zukunft erklären. Zwar ist er bis Herbst 2019 gewählt, viele rechnen aber mit seinem vorzeitigen Rückzug vom CSU-Vorsitz. Die Nachfolge scheint auf Söder hinauszulaufen, dem das Kunststück gelungen ist, dass er als Spitzenkandidat in keiner Weise für das Wahlfiasko mitverantwortlich gemacht wird. Zwar sähe mancher lieber den liberaleren Manfred Weber auf dem Chefsessel. Weber aber konzentrierte sich zuletzt voll auf sein Ziel, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei der Europawahl 2019 zu werden. Das ist ihm vergangenen Donnerstag auch geglückt. Inwieweit sich die Kandidatur und vor allem Webers Ambitionen auf das Amt EU-Kommissionspräsidenten mit einem CSU-Vorsitz vertragen, ist innerhalb der Partei umstritten. Offen ist auch, ob Seehofer im Fall eines Rückzugs von der CSU-Spitze Bundesinnenminister bliebe. Durch den Streit um Verfassungschef Hans-Georg Maaßen ist der 69-Jährige unter Dauerbeschuss.
Nachzählungen In Hessen wird die Regierungsbildung noch dauern, die Ausgangslage ist schwieriger als in Bayern. Zwar könnte die CDU ihr Bündnis mit den Grünen (19,8 Prozent) mit einer Stimme Mehrheit fortsetzen. Rechnerisch möglich wäre aber auch Schwarz-Rot sowie eine Ampelkoalition von Grünen, SPD und FDP (7,5 Prozent). Ebenfalls im Landtag sind die AfD (13,1 Prozent) und Linke (6,3 Prozent). Das exakte Wahlergebnis soll jedoch erst am kommenden Freitag verkündet werden - wegen Pannen muss vielerorts nachgezählt werden. Erst wenn die Kräfteverhältnisse definitiv feststehen, wollen sich CDU und Grüne entscheiden, mit wem sie in Koalitionsgespräche gehen.
Der Autor ist Korrespondent in München.