ANTISEMITISMUS : Den Defiziten auf der Spur
Wie Felix Klein im neuen Amt als Beauftragter der Bundesregierung seine Akzente setzt
Der schweifende Blick durch die breite Fensterfront des geräumigen Eckbüros ist geradezu einmalig. Unterhalb Bundeskanzleramt und Reichstag; nach rechts der Tiergarten mit der schlanken Siegessäule und modernen Hochbauten im Hintergrund; nach links dichte Häuserschluchten mit dem Komplex des Roten Rathauses und dem markanten Fernsehturm am Alexanderplatz. Der Raum nimmt sich wie ein idealer Hochsitz aus, um einen Überblick von der nahen wie fernen Umgebung zu erhalten.
Überblick: Dies ist ein angemessenes Stichwort für Felix Klein an seinem jetzigen Arbeitsplatz mit der famosen Rundsicht, im oberen Stockwerk des Bundesinnenministeriums in Berlin. Seit Mai 2018 steht dort dessen Schreibtisch als "Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus", ein langer Titel, deshalb zumeist nur die Kurzform "Antisemitismus-Beauftragter". Es ist eine völlig neu geschaffene Position im Berliner Regierungsapparat. "Ich bin ins kalte Wasser geworfen worden", beschreibt Klein seinen Start. Und das hieß in den ersten Monaten: ohne Strukturen, ohne Regeln, ohne Personal.
Dabei kam dem jetzt 50-jährigen Beamten sicherlich seine vorherige Tätigkeit zugute. Nach einem juristischen Studium mit Promotion hatte er die diplomatische Laufbahn eingeschlagen. Seit 2014 kam er näher mit seinem jetzigen Berufsumfeld in Berührung. Denn er war, im Rang eines Botschafters, Sonderbeauftragter für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismus des Außenamtes in Berlin.
Allerdings grenzt es an ein kleines Wunder, dass sich eine solche Funktion nunmehr im Berliner Behördentableau befindet. Denn die Genese dieser Einrichtung gleicht eher einer mühseligen Odyssee denn einem starken Willensakt. Die ersten Bemühungen, der Bekämpfung des wachsenden Antisemitismus in Deutschland einen festen Organisationsrahmen zu verschaffen, liegen über ein Jahrzehnt zurück. Anfang 2008, im Vorfeld des 70. Jahrestages der Reichspogromnacht von November 1938, bildete sich im Bundestag eine erste parteiübergreifende Initiative. Doch es bedurfte zweier Beschlüsse des Parlaments, auch zweier Unabhängiger Expertenkreise Antisemitismus mit jeweils langen Berichten, bis sich die Absichten konkretisierten.
Mit Risiko Anlass bot der letzte Rapport von Anfang April 2017 mit fünf zentralen Kernanliegen. "Als Kommission haben wir uns zwei Dinge vorgenommen", sagt Andreas Nachama, Leiter des Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" in Berlin und Mitglied im Expertenkreis. "Erstens müssen wir die Zahl der Forderungen reduzieren, um es nachvollziehbar zu machen. Und zweitens müssen wir dafür sorgen, dass beim Bund jemand da ist, der die Dinge anschiebt, also einen Antisemitismus-Beauftragten." Dennoch bestand das Risiko eines Fehlschlags. Kurz vor dem Ende einer Legislaturperiode droht Vorschlägen allgemein ein Schubladendasein. Doch der Bericht verstaubte diesmal nicht in Bürokraten-Schubladen. Am 18. Januar 2018 passierte der Antrag "Antisemitismus entschlossen bekämpfen" den Bundestag mit großer Mehrheit und der Aufforderung an die Bundesregierung, einen besonderen Beauftragen für diese Aufgabe zu berufen. Zu diesem Zeitpunk war die Regierung nur geschäftsführend im Amt. Aber das Vorhaben schaffte es schließlich in den Groko-Koalitionsvertrag. Denn die Augen lassen sich nicht mehr vor zunehmenden antisemitischen Tendenzen verschließen, vom plumpen Judenhass über muslimische Aggressivität bis zur subtilen Israel-Kritik.
Bei der praktischen Umsetzung der Funktion kam es zu ersten Modifikationen. Der Beauftragte wurde nicht, wie vom Expertenkreis wegen der Querschnittsaufgabe verlangt, im Bundeskanzleramt angesiedelt. Innenminister Horst Seehofer (CSU) pochte auf diese Stelle, weil er sein Ministerium um Bau und Heimat erweitert hatte. Das Personal sollte nur aus zwei Sachbearbeitern und einer Sekretärin bestehen.
"Nach meinem Geschmack ist die Ansiedlung im Innenministerium nicht so glücklich", rügt Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) die jetzige Konstellation. "Ich hätte gern einen Beauftragen des Bundestages gesehen, vergleichbar mit der Institution des Wehrbeauftragten, mit entsprechenden Kompetenzen und einem Stab, der diesen Namen verdient und mit dem er arbeiten kann." Sie sagt: "Es geht nicht, dass man einen Beauftragen ernennt und er keinen Zugriff auf eigenes Personal hat. Wenn sich dies nicht ändert, wäre er zum Scheitern verurteilt."
Diese Situation bildete Kleins Ausgangsposition. Zwar gelang es, bei den Haushaltsberatungen im Herbst die Zahl der Mitarbeiter auf elf zu erhöhen. Außerdem erhielt er einen Fonds von einer Million Euro zur Finanzierung von Projekten. Aber das neue Referat Antisemitismusbekämpfung siedelt im Heimat-Bereich, den ein beamteter Staatssekretär leitet. Von dort soll es Klein zuarbeiten. Eine zumindest komplizierte Gemengelage.
Trotzdem hat Klein, der sich selbst als pragmatisch, optimistisch, zukunftsfroh charakterisiert, innerhalb weniger Monate viel angeschoben. Zunächst konzentrierte er sich darauf, Amt und Person bekannt zu machen: mit Besuchen, Reden, Diskussionen, Stellungnahmen. Was sich vielleicht als smarte PR-Maßnahme ausnimmt, hat einen ernsten Hintergrund. Laut Expertenbericht sind 80 Prozent der Juden in Deutschland der Auffassung, der Antisemitismus nehme ständig zu und bedeute eine immer stärkere Bedrohung. Dagegen meinen fast 80 Prozent der nichtjüdischen Deutschen, das Thema Antisemitismus sei nicht so relevant. Diese Diskrepanz will Klein unbedingt auflösen: "Der Antisemitismus ist nicht nur eine Sache der Juden, sondern von uns allen in Deutschland."
Diese Grundüberzeugung kennzeichnet seine Auftritte. Er erläutert stets sein Programm, verbindet dies fast immer mit einer besonderen Botschaft. Bei der "Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa", wo sich etwa 100 Jugendliche in Berlin-Mitte versammelt haben, fordert er Wachsamkeit und Zivilcourage: "Stehen Sie auf, wagen Sie den Widerspruch." In der Akademie der Künste neben dem Brandenburger Tor bedauert er, dass die Statistiken kein verlässliches Bild über den Grad des Antisemitismus lieferten: "Wir müssen die Dunkelziffern verkleinern."
In Chemnitz, der Stadt, die seit August letzten Jahres häufig symbolisch für fremdenfeindliche und rechtsradikale Zusammenrottungen steht, bekennt Klein, dass alle Maßnahmen der letzten Jahrzehnte nicht ausgereicht hätten: "Es gibt viele Defizite."
Er hat ein lokales Beispiel zur Hand: Während der tumultuösen Tage habe es eine gewalttätige Attacke auf ein jüdisches Restaurant und dessen Inhaber gegeben. Sie sei von der Polizei zunächst als Sachbeschädigung, nicht als politisches Delikt eingeordnet worden.
Aber Klein besetzt auch positive Aspekte. Vor der Europäischen Rabbiner-Konferenz, erinnert er daran, dass das Judentum bald 1.700 Jahre in Deutschland bestehe, wie aus einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321 für Köln hervorgehe. "Dass jüdisches Leben in Deutschland gedeihen kann, auch wieder von Berlin in die Welt getragen wird, ausgerechnet hier, wo so viel Leid über die Juden gebracht wurde: Das muss man sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen."
Verwirrende Zahlen Gerade bei Projekten, die ihm teilweise vom Bundestag vorgegeben wurden, setzt Klein inzwischen Akzente. Das gilt vor allem bei der Vereinheitlichung der widersprüchlichen Statistiken, die mehr Verwirrung denn Klarheit stiften. 2017 zählten die Behörden für ganz Deutschland 1.504 antisemitisch motivierte Straftaten, ein Plus von 2,5 Prozent zum Vorjahr. Was darunter an Feindseligkeiten passiert, taucht in diesen Zahlen nicht auf. So hat die Berliner Recherche- und Informationsstelle (RIAS) allein in der Hauptstadt 947 Vorfälle gelistet, eben Diskriminierungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Angriffe. Zudem ordnete die Polizei 94 Prozent der Delikte dem rechten Spektrum zu, während die betroffenen Juden häufig von Tätern mit muslimischem Hintergrund sprechen.
Am 18. Februar kommt nun die Bund-Länder-Kommission in der Heidelberger Jüdischen Hochschule zu ihrer ersten offiziellen Sitzung zusammen. Sieben Bundesländer verfügen inzwischen ebenfalls über Antisemitismus-Beauftragte. Dieses Gremium ist für die Koordinationsaufgabe Kleins geradezu existentiell. Denn 80 Prozent der Kompetenzen bei der Bekämpfung des Antisemitismus liegen bei den Bundesländern, eben in den Bereichen Polizei und Justiz, Bildung und Erziehung, Prävention und Gedenkkultur. Ohne föderale Zusammenarbeit bliebe die Arbeit des Bundesbeauftragten ein Torso, weshalb Klein die restlichen Ministerpräsidenten bekniet, ähnliche Stellen einzurichten. Ein neuer, effizienter Expertenkreis gewinnt ebenso Konturen, soll aber erst vom Kabinett bestätigt werden. Klein will selbst den Vorsitz führen. Er muss damit leben, dass er von vielfacher Seite unter scharfer Beobachtung steht. Im öffentlichen Spektrum bestehen anhaltende Zweifel über die Erfolgsaussichten. Der scharfzüngige Historiker Michael Wolffsohn spitzt es auf den Begriff "reine Alibi-Veranstaltung" zu, andere Kritiker drücken sich drastischer aus.
Stressabbau findet Klein in einem anderen Metier, nämlich als Mitglied des Diplomatischen Streichquartetts. Das Ensemble pflegt die Werke vergessener jüdischer Komponisten. Hier stimmt es ihn sichtlich zufrieden, mit dem Saitenspiel jüdisches Leben viel unbeschwerter und empathievoller rüberzubringen als mit verbalen Darlegungen.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.