FALL AMRI : Warnung vor dem »Islamonauten«
Zeuge berichtet von Hinweisen aus Marokko auf den späteren Attentäter
Der Islamonaut. Ein hierzulande unbekanntes Wesen. Anis Amri war einer, der spätere Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. Zumindest in der Diktion des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes DGST, der "Allgemeinen Steuerung der Sicherheit des Staatsgebiets", wie das frankophone Kürzel auf Deutsch in etwa zu übersetzen ist.
Die Fahnder der DGST benutzen den Begriff für Islamisten, die auf den Wellen des Internet surfen, wie einst die seefahrenden Argonauten der altgriechischen Sage auf dem Schwarzen Meer unterwegs waren. Im Herbst 2016 gelangte aus der DGST eine ganze Serie von Hinweisen und Anfragen zur Person des "Islamonauten" Amri auf den Schreibtisch Robin O'Debies in der deutschen Botschaft in Rabat. Zwischen dem 20. September und 17. Oktober seien vier solche Mitteilungen eingetroffen, berichtete O'Debie vorige Woche dem Amri-Untersuchungsausschuss.
Die Warnungen aus Marokko haben seit dem Berliner Anschlag die politische, journalistische und kriminalistische Phantasie reichlich beschäftigt. Warum ließen sie auf deutscher Seite nicht alle Alarmglocken schrillen? Hat man die Marokkaner unterschätzt? Die Seriosität ihrer Erkenntnisse angezweifelt? Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden kam das Thema am 2. November 2016 zur Sprache. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) übernahm es damals, den Hinweisen nachzugehen.
O'Debie arbeitet seit 2015 als Verbindungsbeamter des Bundeskriminalamts (BKA) in Rabat. Seine Tätigkeit beschrieb er dem Ausschuss als die eines "Briefboten" im polizeilichen Informationsaustausch beider Länder. Über seine marokkanischen Ansprechpartner ist er voll des Lobes. Die Zusammenarbeit sei "herausragend". Was die DGST zu bieten habe, seien "immer sehr werthaltige Informationen".
Auch im Fall Amris lagen die Marokkaner, wie sich herausstellen sollte, leider richtig. Allein erschien ihr Hinweis, der Mann könnte in naher Zukunft möglicherweise irgendetwas im Schilde führen, wie O'Debie meinte, den deutschen Behörden wohl nicht konkret genug, um in helle Aufregung zu geraten. Im Laufe des Jahres 2016 seien rund 110 "operative Vorgänge" auf seinem Schreibtisch gelandet, sagte der Zeuge, von denen etwa 30 mit vermuteten radikalislamischen Aktivitäten zu tun gehabt hätten. Unter diesen seien die vier Mitteilungen der DGST zum Fall Amri in keiner Weise "außergewöhnlich" gewesen.
In mancher Hinsicht seien die Marokkaner auch erstaunlich genau über Amri unterrichtet gewesen. So hätten sie gewusst, dass der Mann vor seiner Einreise nach Deutschland vier Jahre in Italien hinter Gittern verbracht hatte. Ein oder zwei Tage nach dem Eingang der beiden letzten Mitteilungen am 17. Oktober habe er der DGST in Rabat einen seiner Routinebesuche abgestattet und bei der Gelegenheit auch den Fall Amri angesprochen. Er habe wissen wollen, woher die Marokkaner ihre Informationen hatten. In der Regel sei es so gewesen, dass sie auf der Suche nach Islamisten das Internet, insbesondere Facebook, "detailliert" ausgewertet hätten.
Verhaltene Resonanz "Im Februar 2016 war Amri am nächsten an einer Anschlagsvorbereitung. Nach Februar war die Brisanz der Lage ein Stück weit abgeebbt", sagte der zweite Zeuge der vorigen Woche, Kriminaldirektor Martin Kurzhals, zur damaligen Beurteilung des späteren Attentäters durch deutsche Sicherheitsbehörden. Ein Hinweis, der als Anhaltspunkt dafür gelten kann, warum die Warnungen aus Marokko im Herbst eine eher verhaltene Resonanz fanden. Kurzhals vertrat das BKA von 2014 bis Mitte 2018 im GTAZ. In dieser Funktion moderierte er zwischen Februar und Juni 2016 sechs Besprechungen, in denen Amri Thema war.
Als der Tunesier am 4. Februar im GTAZ erstmals zur Sprache kam, stand die Vermutung im Raum, er trage sich mit Plänen für Anschläge mit Schnellfeuerwaffen. Das hatte das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen von einem Gewährsmann im Islamistenmilieu erfahren. Damit geriet Amri auf den Radar des BKA, das im Februar 2016 drei "Gefährdungsbewertungen" über ihn abgab und dabei die Bedrohungsprognose geringfügig nach oben korrigierte. War er zunächst auf Rang sieben einer achtstufigen Skala einsortiert, was bedeutete, dass ein unmittelbar bevorstehender, von ihm verursachter Anschlag "eher auszuschließen" war, so rückte er dann in die fünfte Stufe auf: Attentat "eher unwahrscheinlich".
Furchterregend las sich auch das nicht. Dennoch: "Er war für alle ernst zu nehmen", so deutete der Zeuge diese Einschätzung.