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DDR : Anspruch und Wirklichkeit

Die Verfassung sah zwar umfassende Freiheits- und Grundrechte vor, doch bis 1989 existierten diese vielfach nur auf dem Papier

15.07.2019
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Der Entwurf gelingt in kürzester Zeit: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und der Übernahme der Hoheitsgewalt in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) durch die Sowjetische Militäradministration (SMAD) beauftragte diese im Juli 1946 erstmalig die SED-Führung, einen Entwurf für eine neue "Reichsverfassung" auszuarbeiten. Bereits einen Monat später, am 10. August 1946, lag der "Reichsverfassungsentwurf" vor, erstellt von Karl Polak. Der Jurist, der im Weiteren eine zentrale Rolle bei der Schöpfung einer Verfassung für die DDR spielen sollte, war aus Sicht von SMAD und SED ein idealer Kandidat. Polak hatte in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren in der Weimarer Republik Rechtswissenschaften studiert, war zwischen 1933 bis 1945, auch aufgrund seiner jüdischen Herkunft, in die Sowjetunion emigriert und wurde dort mit dem sowjetischen Rechtssystem bekannt.

Mit dem "Reichsverfassungsentwurf" - erstellt in Absprache mit dem damals stellvertretenden SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht - setzte Polak die Eckpfeiler für die spätere ostdeutsche Verfassungsgebung. Die Verfassung sollte sich weitgehend an die Weimarer Verfassung anlehnen bei allen Grund- und Freiheitsrechten, ein Bekenntnis zu Deutschland als zentralem Einheitsstaat mit dezentralisierter Verwaltung in den Ländern enthalten und sie sollte "antifaschistisch-demokratische Errungenschaften" (Bodenreform und Enteignungen) festschreiben. Außerdem waren sozialistischen Verfassungsvorstellungen wie Gewalteneinheit und Wirtschaftsplanung vorgesehen.

CDU-Vorschläge Die Einheitssozialisten waren jedoch nicht die einzigen in der SBZ, die sich mit Verfassungsfragen beschäftigten. Die Berliner CDU-Reichsgeschäftsstelle mit ihrem "Verfassungsausschuss" unter Leitung der Juristen Hans Peters und Helmut Brandt erarbeiteten bis Mitte Juni 1946 zwölf verfassungsrechtliche Thesen, die unter anderem die Herstellung des deutschen Staates auf föderativer Grundlage, die Trennung der Gewalten, die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern und die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit betrafen. Die Berliner CDU publizierte und propagierte ihr Verfassungskonzept jedoch nicht, sondern wollte einen einheitlichen Reichsverfassungsentwurf der CDU aller vier Zonen abwarten.

Nachdem sich 1947 und Anfang 1948 herauskristallisierte, dass die vier alliierten Siegermächte keine Einigung über die künftige staatsrechtliche Gestaltung Deutschlands erzielen konnten, initiierte die SED im Auftrag der Sowjets im Dezember 1947 eine Art Massenbewegung, genannt "Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden". Dieser Volkskongress war nicht aus Wahlen, sondern über den undurchsichtigen Modus einer Delegierung hervorgegangen. Den Vertretern im Volkskongress fehlten demokratische Legitimation und breite Zustimmung der Bevölkerung. Trotzdem institutionalisierten ihn SED und SMAD. Am 18. März 1948 wählte der Kongress einen "Ersten Deutschen Volksrat" bestehend aus 400 Mitgliedern. Dieser richtete sechs Fachausschüsse ein, darunter einen Verfassungsausschuss. Zu den wichtigsten Mitgliedern dieses Verfassungsausschusses gehörten für die SED deren Ko-Vorsitzender Otto Grotewohl und die Juristen Polak und Karl Steinhoff, von der CDU der Religionswissenschaftler Hugo Hickmann und der Journalist Georg Dertinger, vonseiten der Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP) Johannes Dieckmann und der Jurist Hans Loch. Auf einer Folgesitzung kooptierten die gewählten Mitglieder zudem noch vier Experten in den Ausschuss - darunter die drei Juristen Peter Alfons Steiniger (SED), Karl Schultes (SED) und Helmut Brandt (CDU). Zum Vorsitzenden des Ausschusses wurde Grotewohl bestimmt.

Tatsächlich wirkten noch weitere Funktionäre und Experten an der Erarbeitung des Verfassungsentwurfs mit. Unter den 26 Verfassungsausschussmitgliedern fanden sich nur vier Frauen. Der politischen Zugehörigkeit nach gehörten 15 Ausschussmitglieder der SED an, davon kamen acht aus der früheren Sozialdemokratie. Die CDU stellte vier, die LDP drei Mitglieder.

In zwölf Sitzungen des Verfassungsausschusses erstellten die Mitglieder den Entwurf für eine gesamtdeutsch angelegte Verfassung, der als eine Synthese zwischen Weimarer Verfassung und dem SED-Verfassungsentwurf von November 1946 angesehen werden konnte. Sowohl für die Einheitssozialisten als auch für die Christdemokraten und Liberalen war der Verfassungsentwurf ein Kompromiss. SED-Politikern ging er in ihren sozialistisch-kommunistischen Vorstellungen nicht weit genug. Auf Weisung der sowjetischen Besatzungsmacht hatten sie die bürgerlichen Parteien in den Verfassungsgebungsprozess einzubinden und die gesamtdeutsche Propaganda zu unterstützen. CDU- und LDP-Politikern nahmen ihrerseits angesichts der politischen Machtverhältnisse in der SBZ große Abstriche an ihren verfassungsrechtlichen Überzeugungen hin. Am 22. Oktober 1948 lag der vollständige Verfassungsentwurf vor und wurde einer öffentlichen Diskussion übergeben.

Der Verfassungstext umfasste drei Hauptteile - Grundlagen der Staatsgewalt, Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt sowie Aufbau der Staatsgewalt - mit insgesamt 144 Artikeln. In der Verfassung bekannte man sich einleitend zur Einheit der Nation - Artikel 1: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik;" -, zum Aufbau der Republik durch die Länder und zum Fundamentalsatz aller Demokratien - "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Artikel 3). Alle gängigen Freiheits- und Grundrechte waren im Entwurf verankert. Sie wurden ergänzt durch soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit oder einem klaren Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau. Im Abschnitt über die Wirtschaftsordnung wurden der Schutz des Eigentums und eine staatliche Wirtschaftslenkung kodifiziert. Alle Maßnahmen, die die Boden- und Industriereform in der SBZ gebracht hatten, waren im Verfassungsentwurf verankert worden. Der Verfassungsabschnitt über den Aufbau der Staatsgewalt erklärte das Parlament, die Volkskammer, "zum höchsten Organ der Staatsgewalt" (Artikel 50). Sowohl Parteien wie auch Organisationen erhielten das Recht, Wahlvorschläge einzureichen. Eine Verfassungs- beziehungsweise Verwaltungsgerichtsbarkeit war hingegen nicht vorgesehen. Der Verfassungsentwurf beinhaltete die Rechte und die Stellung der Länderkammer, die in der Hauptsache ein aufschiebendes Einspruchsrecht bei Gesetzesvorlagen der Volkskammer ausüben konnte. Die Beziehungen der Zentralgewalt zu den Ländern wurden geregelt, die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Republik war im Vergleich zur konkurrierenden erweitert worden. Die Republik hatte zudem die Kompetenz-Kompetenz, also das Recht, Zuständigkeiten zuzuweisen und zu verändern, auf allen Gesetzgebungsgebieten lediglich mit der Einschränkung, dass sie sich bei ihrer Gesetzgebung auf die Aufstellung von Grundsätzen beschränken soll, soweit dadurch dem Bedürfnis einer einheitlichen Regelung Genüge geschieht. Die Wahl des Staatsoberhauptes, des Präsidenten der Republik, sollte durch die Volks- und Länderkammer erfolgen. Seine Funktionen waren ausschließlich repräsentativer Art. Die Abschnitte zur Rechtspflege entsprachen rechtsstaatlichen Prinzipien. Neu waren die Regelungen zur Wahl und Absetzbarkeit der Richter, was einer Einschränkung von deren Unabhängigkeit gleichkam.

Parallel zur Verfassungsdiskussion in der sowjetischen Zone begannen in den drei westlichen Zonen die Beratungen des Parlamentarischen Rates über ein Grundgesetz für den westdeutschen Staat. Am 23. Mai 1949 nahm dieser das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" an. Für die SED- und SMAD-Spitze war nun endgültig klar, dass die Bildung eines westdeutschen Staates nicht mehr aufzuhalten war. Mit propagandistischem Aufwand hielten SED und die anderen Blockparteien am im Mai 1949 den "Dritten Deutschen Volkskongress" ab, der den "Zweiten Deutschen Volksrat" bestimmte. Dieser nahm den "Beschluss über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" an, setzte sie jedoch noch nicht in Kraft. Erst nachdem in den drei Westzonen im August 1949 Wahlen zum Deutschen Bundestag stattgefunden und sich die Bundesorgane - Bundesrat, Bundestag, Bundespräsident - konstituiert hatten, erfolgte im "programmierten Nachvollzug" die Gründung der DDR. Die aus dem "Deutschen Volksrat" hervorgegangene und nicht gewählte Provisorische Volkskammer verlieh am 7. Oktober 1949 der Verfassung Rechtskraft. Mit dem Aussetzen von "allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen" (Artikel 51) zur Volkskammer, die die Verfassung in Kraft setzen musste, sicherte sich die SED ihre Herrschaft und missachtete dabei die Verfassungsartikel 51 bis 53, was ein eindeutiger Verfassungsbruch war und einem Staatsstreich gegen die DDR-Verfassung gleichkam.

Von DDR-Gründung an klaffte also ein tiefer Widerspruch zwischen großen Teilen des Verfassungsinhalts und der Verfassungsrealität. Wirksames Verfassungsrecht wurden die Verfahrensregeln aus dem organisatorischen Teil der Verfassung wie formale Bestimmungen über die Volks- und Länderkammer (Artikel 50 bis 80), die Gesetzgebung (Artikel 81 bis 90) oder formale Bestimmungen über die Regierung und den Präsidenten - (Artikel 81 bis 90 und 101 bis 108). Die Verfassungsabschnitte über die Wirtschaftsordnung (Artikel 19 bis 29) wurden geltendes Recht, wie die über die Bodenreform und die Verstaatlichungen. Staatliche Wirtschaftsplanung und Wirtschaftslenkung wurden umgesetzt. Weitere Teile materiellrechtlicher Vorschriften wurden verwirklicht wie die über die Gleichberechtigung der Frau, die Artikel über das Sozialversicherungs-, Schul- und Bildungswesen sowie Verfassungsnormen wie das Recht auf Arbeit, Erholung und Urlaub (Artikel 7, 18, 30 bis 33, 35 bis 39).

Wichtige Teile der DDR-Verfassung traten jedoch nie in Kraft. Das betraf alle Artikel und Einzelbestimmungen, die die parlamentarisch-demokratischen und die rechtstaatlichen Elemente der Verfassung ausmachten. Dazu zählten unter anderem die Grundsätze über die Wahlen und die Volkssouveränität. Alle Regelungen des Rechtsschutzes des Einzelnen - Persönlichkeitsrechte, Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsschutz- und Rechtssicherheitsgarantien (Artikel 8 bis 14, 51 bis 67, 127, 133, 136) - wurden nicht verwirklicht wie unter anderem der Schutz der persönlichen Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Postgeheimnis, das Recht zur Auswanderung, die Freiheit der Meinungsäußerung, das Verbot der Pressezensur, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Gerichte oder das Gebot der Öffentlichkeit von Verhandlungen vor Gericht. Berüchtigt wurde Artikel 6 Absatz 2 der DDR-Verfassung - die sogenannte Kriegs- und Boykotthetze. Der Artikel wurde als Strafgesetz behandelt, obwohl er keine Strafandrohung enthielt. Er war Teil der Grundlage des politischen Strafrechts in der DDR und wurde angewandt, um gegen politische Gegner strafrechtlich vorzugehen.

Tauwetter Bereits 1955/56 unternahm die SED-Spitze, wieder unter Leitung von Karl Polak, den Versuch, eine neue "Verfassung sozialistischen Typs" einzuführen, musste dieses Vorhaben jedoch im Zuge des 20. KPdSU-Parteitages und der Entstalinisierungsprozesse stoppen. Eine sozialistische Verfassung erhielt die DDR erst zwölf Jahre später, am 6. April 1968. Die Verfassung von 1968 und die Verfassungsänderung von 1974 kodifizierten die politische Realität nachdrücklicher, stellten allerdings keine echte Verfassungsreform dar.

Die aus 108 Artikeln - zuvor waren es 144 - bestehende Verfassung von 1968 enthielt ausdrücklich die Bezeichnung "sozialistisch", der Führungsanspruch der SED wurde festgeschrieben. Aus dem Artikel 1 (1) von 1949 "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik" wurde 1968 der Artikel 1 (1) "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen."

Mit Artikel 8 der 1968er-Verfassung strebte man die "Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten" an. Fallengelassen wurde damit der Versuch, eine gesamtdeutsche Verfassung zu etablieren, indem eine Zweistaatlichkeit hingenommen wurde. Der Folgesatz jedoch postulierte das Ziel einer "Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung" weiter. Bestand hatten Verfassungsvorschriften wie Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit, Post- und Fernmeldegeheimnis oder Unverletzbarkeit der Wohnung (Artikel 27 bis 29, 31 und 37), die jedoch nicht gewährt blieben. Die 1949 verfassungsmäßig garantierte Freizügigkeit galt jetzt nur noch für das Gebiet der DDR und die neun Verfassungsartikel zu "Religion und Religionsgemeinschaften" (Verfassung 1949: Artikel 40 bis 48) - damals fast vollständig aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen - wurden auf einen, Artikel 39, zusammengestrichen. Sechs Jahre später, mit der revidierten Verfassung vom 7. Oktober 1974, tilgte die SED-Spitze jeden Hinweis auf die Einheit Deutschlands beziehungsweise die "deutsche Nation". Artikel 1 Satz 1 der Verfassung lautete nun: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."

Anerkennung Seit Beginn der 1970er Jahre suchte die SED die völkerrechtliche Anerkennung der DDR mit einem Höhepunkt im September 1973 durch ihre Aufnahme, ebenso wie die der Bundesrepublik, in die Vereinten Nationen. Diese Phase von "deutsch" zu "DDR", von "deutscher Nation" zu "sozialistischer deutschen Nation" wurde 1967 eingeleitet mit der Verabschiedung eines eigenen DDR-Staatsangehörigkeitsgesetzes. Ein umfassender Prozess der Umbenennungen von Institutionen, Organisationen, Periodika zwischen 1971 und 1973 setze ein - wie beispielsweise von Deutscher Rundfunk und Deutscher Fernsehfunk in Rundfunk und Fernsehen der DDR. Ab 1972 wurde auch der Text der DDR-Nationalhymne mit ihrer Zeile "Deutschland, einig Vaterland" nicht mehr gesungen. Die Verfassungsanpassung 1974 in Artikel 1 ordnete sich in dieses Umfeld ein.

Wie wenig die SED-Führung 1949/50 von ihrer ersten Verfassung hielt, war bereits deutlich geworden, als sie die Veröffentlichung eines Verfassungskommentars kurzerhand verbot. Vier Jahrzehnte später, im Herbst 1989, gingen die DDR-Bürger mit den Rufen "Wir sind das Volk" auf die Straße, um die über Jahrzehnte verwehrte, verfassungsmäßig garantierte Volkssouveränität einzufordern.

Die Autorin forscht am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) zur DDR- und SED-Geschichte.