Grundnorm des Staates : Die Unantastbare
Prägnant formuliert, schwierig zu interpretieren: Perspektiven aus Politik, Recht und Ethik auf die Menschenwürde - und aus der Praxis der Sterbebegleitung
Die 2014 und 2015 geführte Debatte zur Sterbehilfe gilt als eine der klassischen Sternstunden des Parlaments. Mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft diskutierten die Abgeordneten im Wesentlichen die Frage, ob es in Deutschland für Sterbenskranke die Möglichkeit zum assistierten Suizid geben sollte. Viele Diskutanten führten dabei auch den wesentlichen Wert des Grundgesetzes an: die Würde des Menschen. Für die damalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) war es im November 2014 "ein Gebot der Nächstenliebe und auch ein Gebot der Menschenwürde", Betroffenen zu ermöglichen, "so zu sterben, wie sie es ihrer eigenen Menschenwürde gemäß empfinden". Ganz anders argumentierte Franz Josef Jung (CDU) mit Verweis auf den Würde- und Lebensschutz im Grundgesetz: "Nicht das Schaffen von Voraussetzungen für einen schnellen und effektiven Tod ist das Gebot unserer Verfassung, sondern die Schaffung von Voraussetzungen, dass Menschen in Würde sterben können." Regelungen zum assistierten Suizid seien damit nicht vereinbar und verfassungswidrig
Dieses kurze Schlaglicht auf eine komplexe Debatte zeigt, dass selbst innerhalb derselben Partei die Deutung dessen, was die Menschenwürde ausmacht und was sie gebietet, sehr unterschiedlich sein kann. So prägnant der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Artikel 1 des Grundgesetzes auch formuliert ist, so schwierig ist es, zu erschließen, was denn die Menschenwürde konkret ausmacht. Historisch ist der Begriff, der schon 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen genannt wird, natürlich als eine Reaktion auf die Gräueltaten der Deutschen, den Vernichtungskrieg und den Holocaust, zu lesen. Es war in wenigen Worten ein klares Bekenntnis der Verfassungsväter und -mütter und ein Versprechen des Volks der Täter: Nie wieder! Dieser Staat wird Menschen nie wieder foltern, dieser Staat wird Menschen nie mehr versklaven, dieser Staat wird Menschen nie mehr rassistisch verfolgen, dieser Staat wird Menschen nie mehr vernichten.
Aber die Debatten rund um Suizidassistenz, neue biotechnische Verfahren wie die Gen-Schere, die Absicherung gegen materielle Not oder selbst Tierschutz deuten an, dass sich der grundgesetzliche Begriff der Menschenwürde nicht in einer Funktion als Mahnmal und Mahnung erschöpft.
Würde im Sterben Intuitiv erscheint Würde erstmal als etwas sehr Individuelles. Was Würde ist, was ein Leben in Würde und was ein Sterben in Würde ausmacht, das unterscheidet sich wohl von Mensch zu Mensch. Davon weiß Sabine Sebayang zu berichten. Sebayang leitet beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg den Hospiz-Bereich. Rund 100 hauptamtliche Mitarbeiter und 250 Ehrenamtliche begleiten unheilbare kranke Menschen im Sterben - ob ambulant zu Hause oder stationär. Der Verband unterhält in Berlin drei Einrichtungen für Erwachsene und zwei für Kinder und Jugendliche. Für Sebayang ist der Anspruch auf Würde vor allem eine praktische Verpflichtung zum Fragen und Zuhören: "Die Würde ist ein sehr subjektives Konstrukt, das jeder für sich definiert. Wir müssen herausfinden, was die Menschen, die wir begleiten, wirklich wollen." Und das jeden Tag aufs Neue: "Wir sind nah dran, fragen immer wieder: Was ist heute das Ziel?" Gerade viele ältere Menschen kämen ohne große Erwartungen, seien sehr bescheiden. Trotzdem sind da Sorgen: "Viele wünschen sich, dass sie nicht leiden müssen. Die Angst vor Schmerzen ist groß." Deshalb sei Information sehr wichtig, die Aufklärung über Optionen der palliativmedizinischen Versorgung. Würde ernst zu nehmen, heißt für Sebayang auch, Anwalt der Sterbenden zu sein. Das sei gerade wichtig, wenn deren Vorstellungen und die der Angehörigen kollidieren. "Das ist manchmal nicht leicht zu lösen. Da helfen nur Gespräche, Gespräche, Gespräche..."
Sich diese Zeit für Gespräche zu nehmen, sich den Menschen zuwenden und ihnen gerecht werden zu können - darin sieht Sebayang nicht nur die Achtung vor der Würde ihres Gegenüber, für sie es auch Ausdruck ihrer eigenen Würde. "Ich bin aus der Pflege geflüchtet", sagt sie und verweist auf den Zeitdruck und die Arbeitsbedingungen gerade in der Altenpflege, die eben diesen Anspruch an das eigene Berufsethos nicht erfüllbar machten.
Beim Humanistischen Verband steckt hinter der Praxis der Hospiz-Begleitung auch ein dezidiertes weltanschauliches Verständnis - das sich auch in eine gesellschaftspolitische Haltung übersetzt. "Würde ist etwas, das sich Menschen gegenseitig verleihen. Man erkennt darin an: 'Ich bin ein Mensch mit Bedürfnissen, Du bist ein Mensch mit Bedürfnissen - das macht uns gleich'", führt Alexander Bischkopf, Referent für Weltanschauung bei dem Verband, aus. Ein wesentliches Merkmal ist in dem Konzept die Selbstbestimmung, deren Wert sich aus der "unwiederholbaren Einmaligkeit dieses einen Lebens" speise. Diese Würde drücke sich in einer "enormen individuellen Bandbreite von Bedürfnissen aus", sagt Bischkopf. Das gelte auch fürs Sterben, wo diese Bedürfnisse "von der liebevollen Umsorgung im Hospiz bis hin zur Regie über das eigene Leben und der Bestimmung des eigenen Todeszeitpunkt reichen".
Anders als etwa die Kirchen vertraten die Humanisten in der Debatte zum assistierten Suizid keine ablehnende Haltung. In der Möglichkeit, einen solchen Weg zu wählen, sah und sieht der Verband grundsätzlich einen Ausdruck der Selbstbestimmung. Der Bundestag entschied sich mehrheitlich anders, die "geschäftsmäßige" Suizidassistenz ist in Deutschland verboten. Dagegen läuft in Karlsruhe eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Würde im Kommentar Wenn eine Streitigkeit in Karlsruhe landet, dann schlägt die Stunde der Rechtswissenschaftler und ihrer Grundgesetz-Kommentare. In diesen wird bis in die Fußnoten hinein über Deutung, Auslegung und Konsequenzen von einzelnen Wörtern, Halbsätzen und ganzen Artikeln sinniert - natürlich auch über Artikel 1. Das beginnt schon damit, ob Satz 1 und 2 ein subjektiv-rechtliches Grundrecht darstellen, das man, grob gesagt, einklagen kann, oder ob es eher eine Norm ist, die vor allem objektiv-rechtlich als Maßstab staatlichen Handelns wirkt.
Beide Deutungen oder Kombinationen davon machen eine Klärung notwendig, was denn die Menschenwürde juristisch gesehen bedeutet. Nun kann und will das Grundgesetz gar nicht vorgeben, was genau die Menschenwürde ist. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist offen und ermöglicht, dass in der freiheitlichen Gesellschaft ganz verschiedene Lebensentwürfe und Vorstellungen von Würde gelebt werden. Der Begriff zeichne sich durch eine "besondere normative Offenheit aus", stellt auch der Rechtswissenschaftler Wolfram Höfling in dem von Michael Sachs herausgegebenen Kommentar zum Grundgesetz fest.
Statt sich also daran zu versuchen, die Menschenwürde positiv zu definieren, näheren sich die Juristen - einfach gesagt - eher von der andere Seite - und versuchen zu klären, wann die Menschenwürde klar verletzt ist. Klassischerweise wird dazu etwa die sogenannte Objektformel herangezogen. Nach dieser liegt eine Würdeverletzung vor, "wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird", wie es der Rechtswissenschaftler Günter Dürig einst formulierte. So lassen sich etwa staatliche Verfolgung, archaische Bestrafung oder Folter unproblematisch als Würdeverletzung verstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat auf dieses Konzept auch im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz zurückgegriffen (siehe Seite 5). Diese Formel ist aber auch eher nur eine grobe Richtschnur für bestimmte Fallkonstellationen.
Praktische Brisanz entfaltet jedwede juristische Auslegung des Begriffes dadurch, dass die Menschenwürde unantastbar ist. In andere Grundrechte kann eingegriffen werden, andere Grundrechte können gegeneinander abgewogen werden. Nicht so bei der Menschenwürde: Jeder Eingriff ist verfassungswidrig. Damit stehen Juristen, wie Höfling es ausdrückt, vor einem "Konkretisierungsdilemma". Entweder wird der Schutzbereich sehr eng gefasst, dann hat die Norm kaum praktische Relevanz: Folter, staatliche Verfolgung oder der mögliche Abschuss von entführten Flugzeugen sind nicht alltägliche Staatspraxis.
Oder man fasst den Schutzbereich weiter, dann wäre die Norm womöglich relevanter. In der Folge würde dann aber entweder viel mehr staatliches Handeln als verfassungswidrig eingestuft oder aber - und das ist Höflings Sorge - der Unantastbarkeitsanspruch müsste relativiert werden: "Große praktische Relevanz und absoluter Unbedingtheitsanspruch" seien zusammen nicht zu haben.
Für den Bonner Rechtswissenschaftler Matthias Herdegen drückt sich in dieser Auffassung hingegen eine "Scheu vor Differenzierung" aus. In seinen Ausführungen im Maunz-Dürig-Kommentar wirbt er für ein breiteres Verständnis des Würdeschutzes. Relevant sei das vor allem für neue Herausforderungen der Bio- und Reproduktionstechnologien. Denn für Herdegen schützen die übrigen Grundrechte in diesem Bereich nicht zuverlässig. Der Jurist schlägt praktisch vor, in einer "situationsgebundenen Gesamtwürdigung" herauszuarbeiten, was jeweils den unverletzbaren Würdekern ausmacht und wann die Würde nur tangiert, aber nicht verletzt wird. Für Herdegen ist das keine Relativierung, sondern notwendige Konkretisierung. Sein 2003 erstmals publizierter Kommentar sorgte fallerdings ür Wirbel. Die FAZ betitelte eine Kritik des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde dramatisch mit "Die Würde des Menschen war unantastbar".
Würde vor dem Recht Für Kritik über die rechtswissenschaftlichen Fakultäten hinaus sorgte auch, dass Herdegen wenig mit vorpositiven Vorstellungen der Menschenwürde anfangen konnte - und damit quasi Philosophen oder Theologen die Deutung über den Grundgesetzbegriff Menschenwürde absprach: "Nicht die Menschenwürde, aber ihre Gewährleistung im und durch den Staat des Grundgesetzes ist eine Schöpfung des positiven Rechts", heißt es in seinem Kommentar. Relevant sei daher nur die juristische Auslegung. Wer dies bestreite, "kann nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen".
Diesem Verständnis der Menschenwürde im Grundgesetz als reinem Rechtsbegriff, der als subjektives Recht im Recht restlos aufgeht, ordnet die theologische Ethikerin Heike Baranzke hingegen ein Verständnis der Menschenwürde als vorpositivem moralischem "Fundamentalprinzip des Rechts" vor. Für Baranzke ist die Menschenwürde zunächst grundlegend der Name für "unser Bewusstsein, uns selbst als ein verpflichtungs- und verantwortungsfähiges Subjekt zu entdecken". Sie ist damit "Gabe und Aufgabe", nämlich dem Anspruch der Menschenwürde auf eine verantwortete Lebensgestaltung auch gerecht zu werden. Was komplex klingt, sei einfach in die Lebenspraxis zu übersetzen: Wer sich mit einem Anderen verabredet, der hat den Anspruch, dass der Andere fähig ist, eine solche Verpflichtung einzugehen, setzt aber dabei auch voraus, selbst dazu in der Lage zu sein. "Dieses moralische Bewusstsein müssen wir im Alltag voraussetzen, wenn wir uns als Menschen begegnen." Dass dieses Bewusstsein von der Moralfähigkeit des Menschen seit Cicero und Kant Menschenwürde genannt wird, ist für Baranzke eine zufällige historische Entwicklung. Die Idee selbst sei im Alltag unhintergehbar und daher universal und nicht an ein bestimmtes kulturelles Verständnis gebunden.
Baranzke blickt vor diesem Hintergrund mit Skepsis auf politische und juristische Debatten um den Begriff der Menschenwürde. Zum einen sei gerade in biotechnischen Debatten rund um Embryonen und Stammzellen eine "Erosion des Menschenwürdeverständnisses" mit "gefährlichen Tendenzen einer Naturalisierung der Menschenwürde" geschehen. So stellten manche Juristen in die Irre führende Fragen, etwa ob ein In-vitro-Embryo schon Menschenwürde habe oder nur ein geborenes Kind - und erwarteten darauf quasi naturwissenschaftlich präzise Antworten. "Menschenwürde findet man aber nicht unter dem Mikroskop", sagt Baranzke.
Zum anderen warnt die Ethikerin wie auch einige Verfassungsrechtler davor, den Begriff in politischen und rechtlichen Diskussionen normativ überzustrapazieren: "Bei konkreten Problemlösungen sagt der Begriff relativ wenig aus." So ließen sich die komplexen Fragen rund um Sterbehilfe nicht mit dem einfachen Verweis auf ein Menschenwürde-Verständnis lösen. Vielmehr fordere die Idee der Menschenwürde von allen Diskutanten größtmögliche Unvoreingenommenheit und Wahrhaftigkeit im Suchen nach einer Lösung, die der Anerkennung der vorpositiven Gleichheit aller Menschen Rechnung trägt. Damit drücke sich die Menschenwürde als "moralisches Fundament" der Rechtsordnung und als vorpositiver Grund der Menschen- und Grundrechte aus, die von allen staatlichen Institutionen zu gewährleisten sind.
Der Anspruch der "Idee Menschenwürde", in einem demokratischen Rechtsstaat als Freie und Gleiche um Lösungen zu ringen, trifft aber auf eine Realität, in der politische und gesellschaftliche Entscheidungen und Regelungen getroffen werden, die immer auch Opfer produzieren. "Wir kommen nicht mit weißer Weste durchs Leben", sagt die Ethikern. Weil das so ist, mahne die Menschenwürde auch als objektivrechtliches Prinzip zu einer "radikalen Verantwortungsbereitschaft", bestehende gesellschaftliche Verhältnisse permanent auf die Gewährleistung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu hinterfragen. Eine "unendliche moralische Aufgabe", die so aber immer macht- und ideologiekritisch wirke. "Die Idee der Menschenwürde hat immer ein utopisches Potential", sagt die Ethikerin. Sören Christian Reimer