MENSCHENRECHTE : Der chinesische Weg
Mit den abendländischen Vorstellungen hat Pekings Position wenig gemein
Ausgerechnet der 2015 verstorbene Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hat in der Menschenrechtsfrage immer wieder eine Lanze für die chinesische Regierung gebrochen: "Die Menschenrechte sind eine westliche Erfindung", sagte der Hanseat etwa ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview. Und: "Ich würde für die Menschenrechte in meinem eigenen Staat notfalls auf die Barrikaden gehen, aber ich habe nicht das Recht, anderen Leuten öffentlich Ratschläge zu geben, wie sie die Menschenrechte verwirklichen". Seine Botschaft richtete sich dabei an die deutsche Regierung, nicht moralisch herablassend über China zu urteilen.
Tatsächlich unterscheidet sich die offizielle Position der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) deutlich von der christlich-abendländischen Menschenrechtsidee: Demnach hängen die Menschenrechte, deren Schutz seit 2004 in der chinesischen Verfassung verankert ist, stets auch von den "wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen", von "Denkweise, Sitten und Bräuche" des jeweiligen Landes ab, wie das staatliche Medium "Beijing Rundschau" in einem Artikel von 2014 festhält. Wenig überraschend stellt das konfuzianisch geprägte China das Wohl der Masse über die Rechte von Minderheiten. Der von 1987 bis 1998 amtierende Regierungschef Li Peng formulierte dies unmissverständlich: Für ein Entwicklungsland wie China seien das Recht zu überleben sowie das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung die wichtigsten Menschenrechte.
Nach dieser Argumentation hat Chinas Regierung ihre Ziele in rasantem Tempo erreicht: Allein in den vergangenen 35 Jahren ist die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung von 66 Prozent auf mittlerweile rund 97 Prozent angewachsen. Seit 1990 sind die Arbeitslöhne um das Achtfache angestiegen. Laut der staatlichen Statistikbehörde umfasst die chinesische Mittelschicht mittlerweile knapp 400 Millionen Personen - also fast ein Drittel der Bevölkerung, die ein Jahreseinkommen zwischen rund 3.200 Euro und 32.000 Euro zur Verfügung haben.
Und doch ist dies nur eine Seite der Medaille: Westliche Nichtregierungsorganisationen (NGO) kritisieren - etwa wie zuletzt Amnesty International -, dass sich die Menschenrechtslage in China "massiv verschlechtert" habe. So führt das Reich der Mitte nach wie vor mit geschätzt mehreren tausend Hinrichtungen pro Jahr den Todesstrafenbericht von Amnesty an. Des Weiteren kritisiert die NGO die ausgeweiteten Sicherheitsgesetze zur Überwachung, willkürliche Verhaftungen und Folter. Auf dem Pressefreiheit-Ranking von "Reporter ohne Grenzen" rangiert China zudem als 177. auf dem weltweit viertletzten Platz.
"Die Behauptung der chinesischen Regierung, ein Vorkämpfer für Menschenrechte zu sein, weil die Armutsrate gesunken ist, ist schlichtweg Propaganda", meint Benjamin Haas, der mehrere Jahre als Korrespondent in China gearbeitet hat und derzeit Gastwissenschaftler der Berliner Denkfabrik Merics ist. "Es war allein der Erfindungsgeist und die harte Arbeit der chinesischen Bevölkerung, die Millionen aus der Armut erhoben hat", sagt der US-Amerikaner. Der einzige Verdienst, die der Regierung bei diesem Prozess zukomme, sei es, sich von der desaströsen Wirtschaftspolitik nach der kommunistischen Revolution abgewendet zu haben. Menschenrechte seien, betont der China-Experte, universal; und die unzähligen Chinesen, die unter großem persönlichen Risiko für ihre Rechte kämpfen, seien der beste Beleg dafür.
Seit jeher lautet die Gretchen-Frage für viele China-Experten, ob der chinesische Weg - wirtschaftliche Öffnung des Landes bei gleichzeitigem strikten Ein-Parteien-System - nachhaltig funktionieren kann. "Früher oder später wird sich Chinas Wachstum verlangsamen", schrieb etwa der bekannte "New York Times"-Kolumnist Thomas Friedman bereits im Jahr 1998: "Das ist der Zeitpunkt, an dem China eine legitimierte Regierung benötigt. (...) Wenn Chinas 900 Millionen Dorfbewohner Telefone haben und sich gegenseitig anrufen, wird das Land unweigerlich offener werden". Die damals, wenige Jahre nach dem Fall der Sowjetunion weit verbreitete Prognose vieler Analysten lautete: Wenn die Chinesen einen gewissen Wohlstand erreicht haben, werden sie intuitiv freie Wahlen einfordern.
Mehr als 20 Jahre nach Friedmans Kolumne lässt sich resümieren, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Zwar ist die Expansion der mittlerweile zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt abgekühlt, seit die gestiegenen Personalkosten auf die Margen der Unternehmen drücken und zuletzt auch der eskalierende Handelskrieg mit den USA den Ausblick trübt. Doch der rasante technische Fortschritt hat - wenn überhaupt - die totalitären Tendenzen im Land nur mehr verstärkt. Mittlerweile besitzen zwar rund 800 Millionen Chinesen ein Smartphone, doch statt zu einer offeneren Gesellschaft hat dies vor allem zu einem rigiden Überwachungsstaat geführt.
Das Verständnis der KPCh von Menschenrechten lässt sich auch im jährlichen Regierungsbericht an den Nationalen Volkskongress ablesen. Darin hat Premierminister Li Keqiang 2019 der Wahrung gesellschaftlicher Stabilität die höchste Priorität eingeräumt: So sollen insgesamt elf Millionen urbane Arbeitsplätze allein im Jahr 2019 kreiert werden. Gleichzeitig geht mit der Strategie des "Stabilitätserhalts" die Unterdrückung von - wie es die KPCh nennt - "destabilisierenden Elementen" einher: Dissidenten, kritische Intellektuelle, Anhänger von Untergrund-Kirchen sowie angebliche Terroristen in Xinjiang und Tibet werden rigide verfolgt. Seit im Jahr 2015 ein neues Gesetz zur Nationalen Sicherheit verabschiedet wurde, kann der Staatsapparat noch stärker gegen Oppositionelle und Aktivisten vorgehen.
Mittel des Machterhalts Die Menschenrechte in China dienen also zuallererst als Instrument des Machterhalts der KPCh. Es bleibt fraglich, ob der fehlende Rechtsstaat, ausbleibende Meinungsfreiheit und unzureichender Schutz von Minderheiten letztendlich der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes im Wege stehen werden. "Ich würde mir nicht trauen, hier eine Prognose über den Ausgang anzustellen. Doch schauen Sie sich nur mal folgende Zahlen an: China gibt jährlich mehr Geld zur Überwachung seines eigenen Volks aus als für sein Militär, Forschung oder Wohnbauförderungen", sagt Benjamin Haas vom Merics Institut.
Der Autor lebt als freier Ostasien- Korrespondent in Seoul.