Südchinesisches Meer : Nadelstiche
Die USA sind der letzte große Rivale gegen Pekings strategische Ambitionen geblieben
Ende Juli führten die chinesischen Seestreitkräfte in der Straße von Taiwan ein zweitägiges Manöver durch. Nicht allein die kurze Frist zwischen Ankündigung und Beginn überraschte. Auch die Dimensionen der Übung übertrafen alle Erwartungen. Weite Teile des Ostchinesischen Meeres und der Norden des Südchinesischen Meeres waren einbezogen. Die gesamte küstennahe See zwischen Shanghai und Hongkong wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Betroffen davon waren vor allem die Flug- und Seeverbindungen zwischen Taiwan und dem Festland.
Nadelstichen dieser Art ist die Inselrepublik vermehrt ausgesetzt, seit Tsai Ing-wen 2016 zur Präsidentin gewählt wurde, ist sie doch eine Exponentin jenes politischen Lagers, das die völkerrechtliche Unabhängigkeit Taiwans in Betracht zieht. Dies anzustreben heißt aus Sicht Pekings aber, eine rote Linie zu überschreiten. In diesem Jahr ist der Ton besonders rau, eine Drohgebärde folgte der anderen. Bereits im April hatte die Volksbefreiungsarmee ein großes Manöver vor den Küsten der Insel abgehalten. Am 24. Juli veröffentlichte Peking sein neues Weißbuch zur "nationalen Verteidigung in einer neuen Ära", das die Regierung in Taipeh in scharfer Form kritisierte. Noch im gleichen Monat untersagte die Volksrepublik bis auf weiteres Individualreisen vom Festland auf die Insel. Die USA, unter deren Schirm Taiwan bis heute seine Selbständigkeit behaupten konnte, reagierten mit einer verstärkten Präsenz von Kriegsschiffen in der Seeregion.
Zuspitzung Trotz dieser Zuspitzung der Lage ist es derzeit unwahrscheinlich, dass die Volksrepublik das Risiko einer militärischen Eskalation in Kauf nehmen will. Sie darf vielmehr davon ausgehen, dass die Zeit weiterhin für sie spielt. Mangelnde Geduld hingegen könnte einen nachhaltigen Rückschlag nach sich ziehen. Chinas sicherheitspolitische Ambitionen und Maximen sind kein Geheimnis. An ihnen wird seit der kommunistischen Machtübernahme über alle Kursänderungen des Regimes hinweg kontinuierlich festgehalten. Im Zentrum steht die nationale Souveränität, die es bedingungslos zu verteidigen gilt, nachdem China im "Jahrhundert der Erniedrigung" zwischen 1840 und 1940 der Fremdbestimmung durch auswärtige Mächte unterworfen war. Darüber hinaus sind der territoriale Besitzstand zu wahren und verlorene Gebiete, auf die man einen historischen Besitzanspruch zu haben glaubt, zurückzugewinnen, sobald dies möglich ist, ohne zu viel aufs Spiel zu setzen. Daraus resultierten neben dem Anspruch auf Taiwan auch Grenzstreitigkeiten mit Russland, die unterdessen als ausgeräumt gelten können, sowie mit Indien, die der Rivalität der beiden Schwergewichte auf dem asiatischen Kontinent zusätzliche Brisanz verleihen.
Besondere Kreativität legt Peking an den Tag, um Rechte an den angrenzenden Meeren für sich zu reklamieren. Hinsichtlich des Südchinesischen Meeres sind sie kartographisch durch eine sogenannte Neun-Striche-Linie festgehalten, die aus vorkommunistischer Zeit stammt, schon vor 70 Jahren vom damaligen Premierminister Zhou Enlai ins Feld geführt und 2009 auch den Vereinten Nationen präsentiert wurde. Diese Linie - es existieren auch Varianten mit zehn oder elf Strichen, die die Ansprüche noch weiter fassen - schmiegt sich U-förmig an die anrainenden Inselstaaten an und bringt Pekings angeblich aus der vorkolonialen Rechtslage abgeleitete Position zum Ausdruck, dass 90 Prozent des Südchinesischen Meeres mitsamt seiner Inseln und Riffe der "unanfechtbaren Souveränität" Chinas unterstünden.
Seevölkerrecht Ob Chinas Geschichtsbild den historischen Tatsachen entspricht, sei dahingestellt. Aus dem heutigen Seevölkerrecht lassen sich derartige Ansprüche jedenfalls nicht begründen. Der von den Philippinen eingeschaltete Ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag hat in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2016 nahezu allen Argumentationen Pekings den Boden unter den Füßen entzogen. Chinas Behauptung, dass ihm die Souveränität über die Seegebiete innerhalb der Neun-Striche-Linie zustünde, steht nicht im Einklang mit der UN-Seerechtskonvention, da dadurch den Philippinen, Vietnam, Malaysia, Indonesien und Brunei ihre rechtmäßig deklarierten Ausschließlichen Wirtschaftszonen streitig gemacht werden. In der zwischen China und Taiwan auf der einen und den Philippinen auf der anderen Seite umstrittenen Spratly-Inselgruppe könnte zudem von keinem der Riffe oder Felsen gesagt werden, dass es sich um eine Insel im seevölkerrechtlichen Sinne handele, da sie allesamt, auch wenn sie künstlich aufgeschüttet worden seien und militärisch genutzt würden, für eine längerfristige menschliche Besiedlung nicht in Frage kämen. Damit ließen sich auch keine Ausschließlichen Wirtschaftszonen in einem Radius von 200 Seemeilen, sondern allenfalls Hoheitsgewässer im Umkreis von zwölf Seemeilen legitimieren. Gleiches dürfte auch für die Felsen und Riffe, die im Südchinesischen Meer als die "Inselgruppen" Pratas, Paracel, und Scarborough firmieren, gelten.
Die Entscheidung des Schiedsgerichtshofs in Den Haag gilt völkerrechtlich zwar als bindend, wird aber von Peking nicht anerkannt und ist auch nicht erzwingbar. Die Lage im Südchinesischen Meer (und letztlich auch im Ostchinesischen Meer) ist daher gekennzeichnet durch die Anarchie konkurrierender Ansprüche mehrerer Staaten, für deren Ausgleich es weder einen politischen oder rechtlichen Rahmen noch einen Hegemon gibt, der ein Machtwort sprechen könnte. Auch die USA, die in dieser Weltregion immer noch das größte Militärpotenzial in die Waagschalen werfen können, beschränken sich darauf, ihre eigene Bewegungsfreiheit sicherzustellen. Nahezu alle Anrainer haben schon vor Jahrzehnten von Riffen und Atollen, auf die sie Anspruch erheben, auch militärisch Besitz ergriffen und diese Stellungen nach und nach ausgebaut.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Sicherheitsvorfälle im Südchinesischen Meer an der Tagesordnung sind. Zumeist folgen sie dem Muster, dass Fischerei- oder Forschungsschiffe irrtümlich oder absichtlich in die von der anderen Seite beanspruchten Territorialgewässer eindringen und dann von Sicherheitskräften abgedrängt oder aufgebracht werden. Mitunter münden sie auch in Scharmützel. Größere Konflikte haben sich in den vergangenen Jahren daran nicht entzündet, doch muss bereits ihre Eventualität als Bedrohung genug empfunden werden. Das Südchinesische Meer ist nicht irgendein Randmeer, sondern eine Lebensader des Welthandels, die mit dem Mittelmeer vergleichbar ist. Durch sie läuft das Gros der Erdölversorgung Japans, Südkoreas und auch Chinas. Gut ein Drittel des Welthandelsvolumens durchquert das Südchinesische Meer. Darüber hinaus ist es durch seinen eigenen Ressourcenreichtum (Fisch, Öl, Gas) von wirtschaftlicher Relevanz.
Alte Mächte Die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Kontrolle über einen im globalen Rahmen wichtigen maritimen Verkehrsknotenpunkt sind nicht die einzigen Beweggründe, die das Interesse Pekings am Südchinesischen Meer ausmachen - und vielleicht auch nicht die wichtigsten. Von fast allen Mächten, denen die Verantwortung für das "Jahrhundert der Erniedrigung" zuzuschreiben ist, geht heute für China keine Gefahr mehr aus. Die europäischen Kolonialmächte sind verschwunden. Japan wurde durch seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg Einhalt geboten. Russland ist in die Rolle eines Junior-Partners gedrängt. Lediglich die USA sind als Kontrahent verblieben, der nicht allein den Aufstieg Chinas zur regionalen Hegemonialmacht durch Gegenallianzen durchkreuzen, sondern auch das kommunistische Regime insgesamt in Frage stellen könnte. Noch wagt es China nicht, den Amerikanern entgegenzutreten, wenn sie unbedingte militärische Operationsfreiheit auch in Seeregionen für sich in Anspruch nehmen, die als Ausschließliche Wirtschaftszonen Chinas deklariert wurden. Sollten sie diese Zurückhaltung aufgeben, wäre eine amerikanische Reaktion vermutlich unausweichlich und das Südchinesische Meer nicht mehr nur eine Krisenregion, sondern ein Konfliktschauplatz.