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NS-TÄter : Gnädige Flurbereinigung

Vor 70 Jahren begannen Bundestag und Bundesregierung mit einer Serie von Amnestie-Gesetzen

23.12.2019
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Das Geschenk kam pünktlich. Rechtzeitig vor Weihnachten wurde es auf den Weg gebracht. Es bedeute für die Beschenkten eine unglaublich kostbare Gabe. Als nämlich der erste Deutsche Bundestag am 9. Dezember 1949 das "Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit" mit großer Mehrheit verabschiedete, bereitete es einigen Hunderttausend Westdeutschen eine wahrlich frohe Bescherung. Setzten doch die Parlamentarier mit dieser Entscheidung ein erstes Signal für eine Problematik, deren Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart reichen: der Umgang mit der NS-Vergangenheit.

Im ablaufenen Jahr 2019 ist vielfach an die Konstituierung und Anfänge der Bonner Republik erinnert worden, rundeten sich doch die Daten zum 70. Mal: 23. Mai 1949 - Verkündung des Grundgesetzes; 14. August 1949 - erste Wahl zum Bundestag; 20. September 1949 - Bildung der ersten Bundesregierung unter der Führung des Christdemokraten Konrad Adenauer. Der Tenor der Rückblicke lag häufig auf der erstaunlich raschen Stabilisierung des neuen demokratischen Systems, das eine klare Kontrastierung zum nationalsozialistischen Terrorregime bildete.

Staat unter Schatten Aus heutiger Sicht erscheinen diese anerkennenden Urteile recht stimmig; denn sie passen zu den vielen vorteilhaften und gedeihlichen Merkmalen der frühen Jahrzehnte - wie Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Aufnahme in die westeuropäische Staatenwelt. Dabei blieb meist ausgeblendet, wie tief die Schatten der dunklen Nazi-Vergangenheit über der Gesellschaft des jungen Staates lagen und das Beziehungsgeflecht der Menschen prägten. Im Kontext der damaligen zwiespältigen Verhältnisse lässt sich erklären, warum das "Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit" so rasch auf der Tagesordnung des neuen Bonner Parlaments stand: Die Politiker aller Parteien im Bundestag, von rechts bis links, empfanden dringlichen Handlungsbedarf. Zwar waren in verschiedenen westdeutschen Ländern, noch unter Besatzungshoheit, Überlegungen zum Umgang mit NS-Tätern angestellt, auch Möglichkeiten von Straferlass geprüft worden. Aber die alliierten Militärgerichte und deutschen Spruchkammern hatten Tausende von Urteilen über Verbrechen und Vergehen in der NS-Zeit gefällt, die in die Lebensverhältnisse der Belasteten hart eingriffen. Umso mehr verbanden sich mit Gründung der Bonner Republik die Hoffnungen auf eine "Bundesamnestie".

Für Konrad Adenauer stand ein solcher Akt außer Zweifel, ähnlich wie Begnadigungen, "wenn in der Monarchie ein König den Thron bestieg". Zum ersten Bundeskanzler gewählt, und damit starker Mann der Bonner Politik, versuchte er sogleich, die ganze Richtung zu bestimmen. Denn in seiner Regierungserklärung vom 26. September 1949 begründete er, durch die "Denazifizierung" - wie er es nannte - sei "viel Unglück und viel Unheil" angerichtet worden. Zwar gehörten die "wirklich Schuldigen" an den NS-Verbrechen streng bestraft. "Aber im übrigen dürfen wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politischen Einwandfreien und die Nichteinwandfreien". Der Krieg und die Nachkriegszeit hätten so harte Prüfungen und solche Versuchungen gebracht, dass "man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muss".

Adenauer versprach die Prüfung einer Amnestie, auch bei den alliierten Hohen Kommissaren - die noch die politische Oberaufsicht führten - vorstellig zu werden. Wohin die Sache laufen sollte, gab er zu erkennen, als er forderte "Vergangenes vergangen sein zu lassen". Bei der ersten Kabinettssitzung am 26. September 1949 wurde der Kanzler noch deutlicher: "Wir haben so verwirrte Verhältnisse hinter uns, dass es sich empfiehlt, generell tabula rasa zu machen." Mit seinem großzügigen Vergeben stand Adenauer keineswegs allein. Bei der Beratung des Straffreiheitsgesetzes im Bundestag konnte Bernhard Reismann als Sprecher der Zentrumspartei unwidersprochen behaupten, die Notwendigkeit, "Vergessen über die Vergangenheit zu decken", werde von allen Parteien des Bonner Parlaments anerkannt. Auch dass das Gesetz innerhalb einer Woche verabschiedet wurde, belegt die Eilbedürftigkeit für die Abgeordneten. Mit überwältigender Mehrheit ging es am 9. Dezember 1949 durch. Niemand wollte die generöse Weihnachtsbescherung vermiesen. Es war gerade einmal das zweite Gesetz dieser ersten Legislaturperiode, davor rangierte nur das über die Abgabe eines "Notopfers Berlin". Was allerdings auffällt: Die vergangenheitspolitische Dimension dieses Beschlusses wurde im Bundestag nie offen benannt. Alle Protagonisten bezogen sich bei den Debatten nur auf die Befreiung von Straftaten aus der Besatzungszeit. Und diese Epoche wurde in dunkelsten Farben gemalt: als "Periode ungeheurer Wirrnis", "tiefe Störung", "apokalyptische Jahre", gar als "Leidensgeschichte des deutschen Volkes". Deshalb sollte der Straferlass für Delikte vor dem 15. September 1949 gelten, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder Geldstrafen von 5.000 Mark geahndet worden waren. Oft bezog sich dies auf Schwarzmarkt-Aktivitäten oder Eigentumsvergehen. Aber weil auch Strafen für "Handlungen aus politischen Gründen" sowie die "Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen" in die Gesetzesparagraphen gerutscht waren, profitierte ein großer Kreis von NS-Tätern von dieser Amnestie, insgesamt 800.000 Menschen.

Eiliger Schlussstrich Hier zeigte sich bereits eine Folie, die für alle vergangenheitspolitischen Maßnahmen von Bundesregierung und Bundestag in den nächsten Jahren Anwendung fand: Jede ernste und tiefenscharfe Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen NS-System und die unheilvollen Verstrickungen des deutschen Volkes blieb ausgespart. Darunter wollte man recht geräuschlos und eilends einen "Schlussstrich" ziehen. Die Nazi-Zeit erschien als alleiniger teuflischer und boshafter Ausbund Hitlers und seiner kleinen Clique. Umso mehr war das Heulen und Zähneknirschen von Nachkriegspolitikern über die Zumutungen und Zustände während der Besatzungszeit zu vernehmen, als ständen deren Maßregeln und Sanktionen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der braunen Hinterlassenschaft. Regierung und Parlament gaben damit einer weitverbreiteten Stimmung in der Bevölkerung nach: nicht zu den Tätern und Helfern der Nazibarbarei zu gehören, sondern zu deren bedauernswerten Opfern.

Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Entlastungsregelungen in den 1950er Jahren zu werten: die Empfehlung des Bundestages an die Länder zum Ende der Entnazifizierung vom Dezember 1950 - Verfahren, die zuletzt durch ein ausuferndes "Persilschein"-System zur Farce geworden waren; die Rehabilitierung der "131er", also der nach 1945 geschassten Beamten, Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst sowie der Berufssoldaten vom April 1951; das zweite Straffreiheitsgesetz vom Februar 1954. Daneben liefen gleichzeitig beständige und nachhaltige Bemühungen um eine Begnadigung der von den Alliierten verurteilten Kriegs- und NS-Verbrecher. Häufig geisterte dabei der Begriff von "Siegerjustiz" herum.

Gewünschtes Resultat Diesen bemerkenswerten Komplex frühzeitigen Entlastens und Verharmlosens der NS-Schreckenstaten hat der Historiker Norbert Frei, - der sich diesem historischen Kapitel besonders widmet -, als "Vergangenheitspolitik" bezeichnet. Mit gewünschtem Resultat für die Protagonisten. Denn Mitte der 1950er Jahre, so schreibt Frei, "musste fast niemand mehr befürchten, ob seiner NS-Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden; fast alle waren jetzt entlastet und entschuldigt". Das Konzept "Integration durch Amnestierung", wie es zuweilen genannt wird, zeitigte hinreichende Wirkung. Denn der neue demokratische Bonner Staat sah sich, anders als die Weimarer Republik, keinen existenzgefährdenden Loyalitätskonflikten durch sein Beamtentum ausgesetzt. Dieses passte sich wendig und willig den neuen Erfordernissen an. Dennoch konstatierte Frei, dass die politischen Fehler und moralischen Versäumnisse dieser Vergangenheitspolitik "das geistige Klima in der Bundesrepublik nachhaltig prägten".

Das bittere Verdikt des renommierten Wissenschaftlers lässt sich beispielhaft am "131er"-Gesetz dokumentieren. Im Grundgesetz war die Bundesregierung durch Artikel 131 verpflichtet worden, für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und die Berufssoldaten, die nach dem 8. Mai 1945 ihre Stellungen verloren hatten, eine Regelung zu schaffen. Damit stand nicht weniger als die Neuformierung des öffentlichen Dienstes unter den Bedingungen der Demokratie auf dem Programm.

Herausgekommen ist schließlich "die weitgehende Wiederherstellung personeller Kontinuität" (Frei) aus der NS-Zeit. Die Türen für die Wiederbeschäftigung der braunen Bürokratie standen weit offen, sogar für vormalige Angehörige der SS, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes. "Eine Flurbereinigung für die Zukunft" nannte Bundestagspräsident Hermann Ehlers die Entscheidung des Parlaments am 11. April 1951, und die Bemerkung hat der CDU-Politiker wohl kaum zynisch gemeint. Der Fall Globke mag hier als Chiffre für die blamable Personalrestauration im Bonner Staatsdienst stehen. Hans Globke, Adenauers Staatssekretär und Hausmeier, kommentierte als leitender Beamter des Reichsinnenministeriums die Nürnberger Rassegesetze von 1935 und wirkte an der Juden-Diskriminierung mit. Als Chef des Bundeskanzleramtes spielte er eine "personalpolitische Schlüsselrolle", so der Historiker Manfred Görtemaker und der Strafrechtler Christoph Safferling, denn er behielt sich bei der Neubesetzung von Führungspositionen in den einzelnen Ministerien die Entscheidung "in nahezu jedem Fall" vor. So etablierten sich in den Behörden ganze Seilschaften von alten NSDAP-Mitgliedern, teilweise sogar in höherer Zahl als während der Nazi-Zeit. Görtemaker/Safferling betonen dabei, dass "die Kontinuität des Personals sich in den Inhalten der Politik spiegelt". Und an dieser üblen Hypothek trug der westdeutsche Staat lange.

Historikerkommission Es bedurfte vieler Jahrzehnte, bis die NS-Vergangenheit deutscher Behörden wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gelangte. Aufgrund der Diskussion um einen belasteten Diplomaten beauftragte der grüne Außenminister Joschka Fischer 2005 eine Historikerkommission mit der Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in der NS-Zeit und danach. Mit dem Band "Das Amt und die Vergangenheit" von 2010 wurde das lange Verschweigen brauner personeller Machenschaften in den Anfangsjahrzehnten der Bonner Republik schließlich aufgebrochen. Inzwischen folgten mehrere Ministerien mit beachtlichen Studien, darunter Justiz, Inneres, Wirtschaft, Arbeit.

Ende 2020 soll der Bericht über das Kanzleramt folgen, ein Projekt des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Endlich: Denn da saß die Spinne im Netz.

Der Autor ist freier Journalist und Publizist in Berlin.