IRAK : Zertrümmerte Hoffnungen
Die junge Protestbewegung droht zwischen den Fronten des Iran-USA-Konflikts zerrieben zu werden
Es ist das einzige Hochhaus, das am Tahrir Platz in Bagdad steht. Die meist jungen Demonstranten nennen es das "türkische Restaurant". Es steht an einem Ende der Jumhuriya-Brücke über dem Tigris, die je zur Hälfte durch die Protestbewegung und Regierungstruppen besetzt ist und zum Regierungsviertel, der sogenannten Grünen Zone, führt. Seit nunmehr vier Monaten ist das Haus das Hauptquartier ihrer Bewegung. Im ehemals türkischen Restaurant in der oberen Etage werden die Einsätze und das Vorgehen beraten, hier trifft sich eine Art Organisationsteam, wenn man überhaupt davon sprechen kann. Denn die Proteste im Irak kommen bislang ohne Führung aus, ohne erkennbaren Anführer. Die Teilnehmer eint der tief sitzende Zorn der Bevölkerung gegen die eigene Regierung, aber auch gegen den Iran, dessen Einfluss über seine Milizen direkt bis ins Zentrum der irakischen Politik reicht.
Dafür gehen alle Volksgruppen Iraks auf die Straßen: Schiiten, Sunniten, Christen, Araber, Kurden, Assyrer, Turkmenen. Der Vielvölkerstaat erfährt seine nationale Vereinigung am Tahrir-Platz. Zum ersten Mal ist so etwas wie ein Nationalgefühl entstanden: "Wir Iraker".
Und sie wollen nicht weichen, bis sich alle ihre Forderungen erfüllt haben: eine komplette Umstrukturierung des politischen Systems, Schluss mit der ethnischen und religiösen Proporzaufteilung, mit der grassierenden Korruption, mehr Recht auf Mitsprache vor allem für junge Leute.
Doch seit US-amerikanische Drohnen Anfang Januar am Flughafen in Bagdad den Chef der iranischen Al-Quds-Brigaden, Kassim Suleimani, ermordet haben, macht sich am Tahrir-Platz Resignation breit. "Die machen unsere Bewegung kaputt", beschreibt die 19-jährige Architekturstudentin Hawra das, was in den vergangenen Tagen geschehen ist. Nicht nur von Neuwahlen mit einem geänderten Wahlgesetz ist inzwischen keine Rede mehr. Auch brennen wieder Fahnen auf dem Platz. Waren es vor einem Monat noch iranische Flaggen, sind es jetzt die amerikanischen "Stars and Stripes" oder der Davidstern. Der Zorn vieler Menschen richtet sich wieder vermehrt gegen die USA. Und die Demonstranten, die doch endlich weniger Einmischung ausländischer Mächte und mehr Unabhängigkeit wollten, haben Sorge, wieder zwischen die Fronten zu geraten.
Heftige Kämpfe Hawra kommt seit Wochen jeden Tag zum Tahrir-Platz. Nur tagsüber, sagt sie, abends sei es zu gefährlich. "Besonders für Frauen allein." Tatsächlich kommt es an dem Abend, als die dritte Tigris-Brücke von den Demonstranten besetzt wird, zu heftigen Kämpfen mit den Sicherheitskräften. Tränengasschwaden hüllen den Tigris für Stunden ein, Schüsse und Detonationen sind überall in der Stadt zu hören. Einige sagen, Polizei und Militär hätten Artillerie gegen die Demonstranten eingesetzt, andere meinen, der dumpfe Knall käme von den neuartigen Tränengasbomben, von denen man schwere Kopfverletzungen davontragen könne, wenn man sie abbekommt.
Auf dem Dach des "türkischen Restaurants" hatte die Regierung Anfang Oktober Scharfschützen positioniert. Als die Proteste begannen, wurden Demonstranten von hier aus tödlich getroffen. Seit die Bewegung das Haus besetzt hat, sind die Snyper verschwunden. Nun hängen Transparente und Poster mit Revolutionsslogans an den langen Wänden des Gebäudes: Raus mit Iran! Raus mit Amerika! Raus mit den Türken! Irak den Irakern!
Mehr als 460 Tote und bis zu 15.000 Verletzte im ganzen Land soll es bei den Protesten schon gegeben haben. Auf dem Tahrir-Platz haben die Demonstranten eine Märtyrermeile eingerichtet mit Fotos von Getöteten. Verantwortlich gemacht wird unter anderem die irakische Regierung, vor allem Premierminister Adel Abdul Mahdi, der den Einsatzbefehl der Sicherheitskräfte zu verantworten habe. Mit seinem Rücktritt Anfang Dezember war die erste Forderung der Demonstranten erfüllt. Jubel brach aus am Tahrir-Platz. Doch das Töten und die Verfolgung von Protestlern, die Erstürmung von Fernsehsendern und die Verhaftung von Journalisten, die über die Proteste berichten, gingen weiter.
Im türkischen Restaurant heißt es, dafür sei der Iran verantwortlich. Teherans berüchtigter General Soleimani sei nach Bagdad gekommen, um den Einsatz gegen die Demonstranten zu inszenieren. Am Tahrir-Platz brannten daraufhin iranische Fahnen. Die Menschen malten die Farben des Ajatollah-Regimes auf das Kopfsteinpflaster und trampelten darauf herum - ein Zeichen höchster Missachtung in der orientalischen Welt.
Aus dem Versuch der Demonstranten, die iranische Botschaft zu stürmen, wurde jedoch nichts. Iran-hörige Schiitenmilizen stellten sich schützend vor die Gebäude und sperrten alles weitläufig ab. Dafür überwanden andere Protestgruppen am Silvestertag plötzlich die Kontrollposten zur sogenannten Grünen Zone und zündeten vor dem Gelände der US-Botschaft amerikanische Flaggen an. "Nieder mit den USA!", hätten sie gerufen, berichten Anwesende, einige der Demonstranten seien die Mauern vor der Botschaft hinaufgeklettert und hätten gelbe Fahnen der Hisbollah-Miliz daran gehängt.
Für viele am Tahrir-Platz ist das ein Hinweis darauf, dass dieser Protest von der Schiitenmiliz getragen, wenn nicht sogar initiiert wurde. Wut macht sich breit. "Die kidnappen unsere Bewegung", hieß es unmittelbar danach.
Als US-Drohnen drei Tage später Soleimani töteten, beschloss das Parlament in Bagdad, dass alle ausländischen Truppen den Irak verlassen sollen. Dafür hat die irakische Protestbewegung zwar schon immer demonstriert. Doch an erster Stelle stand stets der Iran, erst dann die USA und an dritter Stelle die Türkei.
Jetzt ist oft nur noch von den USA und den mit ihnen verbündeten Israelis die Rede; letztere sehen viele in Bagdad als Drahtzieher hinter dem Attentat. Es heißt, Israels Geheimdienst Mossad habe den Amerikanern die Information gegeben, dass der iranische General am Morgen des 3. Januar in Bagdad am Flughafen ankomme. Dass der stellvertretende Vorsitzende des irakischen Zusammenschlusses der Schiitenmilizen Hashd al-Shaabi und Gründer der Hisbollah, Abu Mahdi Al Muhandis, dem Mordkommando ebenfalls zum Opfer fiel, tritt dabei oft in den Hintergrund. Das zu wissen ist aber wichtig, wenn man die Reaktion der irakischen Milizen verstehen will, die nun fast täglich Raketenangriffe auf amerikanische Ziele im Irak verüben.
In dieser bedrohlichen Gemengelage ist inzwischen keine Rede mehr davon, dass Iraks Präsident Barham Saleh es nicht geschafft hat, einen neuen Premierminister mit der Bildung einer neuen Regierung zu nominieren, obwohl das von der Verfassung vorgeschrieben ist. Auch der Abzugs-Beschluss des Parlaments wird von der kommissarisch im Amt befindlichen Regierung bereits ausgehebelt. Schon am Wochenende gab es wieder gemeinsame Militäreinsätze der irakischen Armee mit den US-Soldaten, um den Druck auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aufrechtzuerhalten.
Zunehmende Verzweiflung Bei den jungen Demonstranten am Bagdader Tahrir-Platz, von denen die meisten seit ihrer Kindheit nur Krieg und konfessionelle Spannungen kennen, ist die Verzweiflung zu spüren. Sie wollen, dass Amerikaner und Iraner ihre Kämpfe diesmal woanders austragen, nicht im Irak. Doch ihre Hoffnung, das Schicksal ihres Landes endlich selbst in die Hand nehmen zu können, dürfte sich angesichts der neuen Eskalation vorerst kaum erfüllen.
Die Autorin berichtet als freie Korrespondentin aus dem Irak.