Schulsystem : Harte Hand für bessere Bildung
Zum sozialen Aufstieg tragen Großbritanniens Schulen nur wenig bei. Daran hat auch eine große Reform nichts geändert
Three, two, one - hands up!" Gut 20 Schüler in dunkelblauer Uniform sitzen an ihren Tischen, den Blick auf ihre Lehrerin geheftet. Sobald diese von drei herunter gezählt hat, schnellen alle Hände in die Luft. Nächste Frage, wieder ein Countdown. Er ist der Rhythmus, der den Unterricht durchzieht an der Michaela Community School im Nordwesten Londons. Wer ihm nicht folgt, bekommt das zu spüren. "Wenn wir im Unterricht nicht die Lehrerin anschauen, erhalten wir einen Strafpunkt", berichtet Parissa, eine schmale Achtklässlerin mit dunklen Haaren. "Zwei Strafpunkte bedeuten Nachsitzen. Wer drei Strafpunkte hat, fliegt aus dem Unterricht."
Die Michaela Community School hat den Ruf, die strengste Schule Großbritanniens zu sein. Schulleiterin und Gründerin Katharine Birbalsingh will mit den "Irrtümern progressiver Schulpolitik" aufräumen. "Was Michaela von anderen Schulen unterscheidet, ist, dass unsere Lehrmethoden sehr traditionell sind", sagt Birbalsingh. Selbstbestimmtes Lernen und Gruppenarbeit sind für sie nicht viel mehr als Babysitting. Das benachteilige Kinder, deren Eltern sich nicht um ihre Bildung kümmern könnten.
Damit hat die Mittvierzigerin sich ein Problem vorgenommen, dass die britische Schullandschaft schwer belastet. Im Bezirk Brent, wo sie vor fünf Jahren ihre Schule eröffnet hat, spricht rund die Hälfte der Kinder eine andere Muttersprache als Englisch. Viele leben in Armut - und haben damit kaum Aussicht auf schulischen Erfolg. Kinder aus armen Familien hinken Schülern aus wohlhabenderem Elternhaus im Alter von 15 Jahren in einigen Fächern fast drei Jahre hinterher, ermittelte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Frontalunterricht Dagegen stemmt sich Katherine Birbalsingh. Sie ist überzeugt: Frontalunterricht, Auszeichnungen und Strafen geben Schülern die Orientierung, ohne die es viele nicht schaffen würden. Der Erfolg scheint ihr recht zu geben: Bei den ersten GCSE-Prüfungen zählte die Michaela-Schule im vergangenen Jahr zu den besten des Landes. GCSE entsprechen in etwa dem deutschen mittleren Schulabschluss, werden aber auch von Schülern abgelegt, die einen höheren Abschluss anstreben.
Michaela ist eine Free School, wie es sie seit rund zehn Jahren in Großbritannien gibt. Sie sind entstanden, weil die damalige Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten fest daran glaubte, dass mehr private Initiative der Schulbildung helfen würde: Lehrer, Bürgerinitiativen, Eltern oder Unternehmen dürfen seither eigene Schulen gründen. Sie sind staatlich finanziert und frei zugänglich, können den Lehrplan aber weitgehend selbst bestimmen und Gehälter festlegen.
Diese Schulform ist im Zuge einer Reform entstanden, die ursprünglich die frühere Labour-Regierung unter Tony Blair angestoßen hatte: Wo die kommunale Verwaltung versagte, durften Comprehensive Schools, die der deutschen Gesamtschule ähneln, sich in sogenannte Academies verwandeln. Sie unterstanden fortan einer privaten Stiftung, waren aber staatlich finanziert und frei zugänglich. Labour wollte so besonders der schlechten Bildung in armen Teilen des Landes ein Ende bereiten.
Vor allem die Schulen dort leiden unter jahrelangen Kürzungen. Die Schulaufsicht klagte, dass teils schon der Lehrplan zusammengestrichen werden müsse. Premierminister Boris Johnson hat für die kommenden drei Jahre zusätzliche Milliarden versprochen. Wirtschaftsforschern zufolge hilft das höchstens, um die Einschnitte der vergangenen Jahre auszugleichen.
Die Academies sollten auch helfen, das starke Ungleichgewicht zu beheben, das in Großbritannien zwischen privater und öffentlicher Schulbildung besteht. Rund 39 Prozent aller Führungsfiguren in Regierung, Wirtschaft, oder Medien hätten eine teure private Schulbildung genossen, berichtet in einer aktuellen Studie der Sutton Trust, eine Stiftung, die soziale Mobilität im Vereinigten Königreich erforscht.
Die konservativ-liberale Koalitionsregierung weitete das Academy-Programm vor zehn Jahren aus. Dreiviertel der weiterführenden Schulen sind heute Academies und Free Schools. Einige der neuen Schulen hatten großen Erfolg. Ein Allheilmittel für mehr Chancengleichheit aber waren sie nicht. "Was das Versprechen der Academies angeht, die Situation ihrer Schüler zu verbessern, haben wir also ein sehr gemischtes Bild", sagt Becky Francis, die das Institut für Erziehungswissenschaft am University College London leitet.
Druck Viele der neuen Schulen verfolgen ein ähnlich strenges Regiment wie die Michaela Community School, aber nicht alle. Die Alperton Community School liegt nur einen kurzen Fußweg entfernt, ebenfalls in Brent. Lehrerin Andria Zafirakou begrüßt ihre Schüler morgens am Schultor. "Sie haben ein hartes Leben. Manchmal sehe ich sie morgens und merke gleich, dass etwas nicht in Ordnung ist", sagt sie. Viele müssten sich um Geschwister kümmern. Ihre arbeitenden Eltern bekämen sie oft kaum zu Gesicht. Zumindest in der Schule will Zafirakou etwas von dem Druck nehmen, der auf ihnen lastet. Die danken es ihr. "Sie ist für mich wie eine Mutter", sagt Naseem, ein Neuntklässler.
Um ihre Schüler zu motivieren, hat Zafirakou ein Fach gewählt, das anderswo höchstens eine Nebenrolle spielt: Kunst. "Sie brauchen Neugier, Kreativität. Das sind genau die Fähigkeiten, die sie auch in anderen Fächern brauchen", sagt sie. Tatsächlich zeigen die Schüler auch in Mathe oder Englisch gute Leistungen. Für ihr Engagement wurde Zafirakou vor zwei Jahren von einer Stiftung zur "besten Lehrerin der Welt" gekürt. Und wie die harte Hand an der Michaela-Schule ein paar Straßen weiter hat auch die sanfte Lehrmethode von Andria Zafirakou Erfolg: In der Leistungsentwicklung der Schüler zählt die Alperton Community School zu den besten fünf Prozent im Land.
Der Autor arbeitet als freier Journalist für den Deutschlandfunk.