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KULTUR : Gefährdetes Leinwandflimmern

Der Corona-Lockdown offenbart Versäumnisse in der Filmbranche und im System der Filmförderung

11.05.2020
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8 Min

Rettet die Kultur!" mahnte Ulrich Matthes, Präsident der Deutschen Filmakademie, bei der Verleihung der Deutschen Filmpreise Ende April. Die bewegten Bilder der nominierten Filme machten Lust aufs Kino - doch die sind seit dem 16. März im ganzen Land wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Betroffen sind unmittelbar auch Verleiher, Festivals, Marketingagenturen und Filmkritiker. Außerdem wurde die Produktion neuer Filme eingestellt. Ein generelles Drehverbot, wie es Stefan Arndt von X Filme Creative Pool forderte, unterblieb. Die Bundesländer verweigerten stattdessen die Drehgenehmigungen. Ohne den Betrieb an den Filmsets braucht keiner die technische Infrastruktur, was ARRI als weltweiter Verleiher von Kameras ebenso trifft wie die Betriebe der Postproduktion.

Durch die Corona-Einschränkungen steht die Branche mit dem Rücken zur Wand, in den Lockerungsdiskussionen fühlte sie sich lange übergangen. Selbst Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) räumte vor dem Kulturausschuss am 24. April ein, dass sie die Zurückhaltung der Länder bei der Wiedereröffnung der Kinos schwer nachvollziehen könne.

Novellierung des FFG Durch die Corona-Krise kommen auch die Ungleichgewichte in der Branche, der Reformstau der Filmpolitik ebenso wie die sozialen Missstände ans Tageslicht, die seit langem bekannt sind. Der Anfang des Jahres von Grütters vorgelegte Entwurf zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes (FFG), das zum Jahresende in Kraft treten sollte, enttäuschte alle, die auf die seit Jahren versprochene große Reform gehofft hatten. Schuld an dem Stillstand ist auch die Branche selbst. Wiederholt baten die Bundestagsabgeordneten Martin Rabanus (SPD), Gitta Connemann oder Elisabeth Motschmann (beide CDU) um eine gemeinsame Vision der Filmwirtschaft als Grundlage für ihre Entscheidung. Die zerstrittenen Verbände blieben sie bis heute schuldig.

Doch Monika Grütters sieht die Krise als Chance für Bewegung. Das Novellierungsverfahren für das FFG wird nicht wie geplant fortgeführt, entschied sie Anfang April. Die Laufzeit der gegenwärtigen Fassung wird zeitlich verlängert - mit lediglich "zwingend erforderlichen" Änderungen. Bei den weiteren Überlegungen sollen die mittel- und langfristigen Folgen der Pandemie berücksichtigt werden. Im Sommer will sie einen neuen Referentenentwurf für ein Übergangs-/Verlängerungsgesetz vorlegen.

Minijobber Doch noch sind die Türen der 1.734 Filmtheater verschlossen. Jede Woche verlieren sie 17 Millionen Euro. Mehr als 60 Prozent der Mitarbeiter erhalten kein Kurzarbeitergeld, so der Hauptverband deutscher Filmtheater (HDF). Sie sind Minijobber oder Studenten. Für einige Kinos war dies ein Vorteil, durch die geringe Mitarbeiterzahl erhielten sie Unterstützung aus den Corona-Hilfsprogrammen der Bundesregierung und der Länder. An knapp der Hälfte der Betriebe gingen die Angebote vorbei. Sie erhielten nur in Bayern finanzielle Unterstützung, Berlin zog vergangene Woche für Betriebe über zehn Mitarbeiter nach.

Mehr als der Hälfte der Kinos droht die Pleite, schätzt die Arbeitsgemeinschaft Kino (AG Kino), deren Mitglieder den deutschen Film in seiner ganzen Breite pflegen. Die größten Löcher stopften neben den Soforthilfen ein Hilfsprogramm von Filmförderungsanstalt (FFA) und regionalen Filmförderern mit einem Volumen von fünf Millionen Euro sowie die Aufstockung der Prämien für die Gewinner der Kinoprogrammpreise durch Kulturstaatsministerin Grütters und Länderförderer. Für viele Kinos wird es trotzdem eng, weil ihre Kalkulation nach der Digitalisierung der Leinwände, Investitionen in moderne Kassensysteme und steigende Mieten auf Kante genäht ist.

Der Mangel an Eigenkapital ist seit Jahren das größte Problem der gesamten Filmbranche. Auch viele Verleiher haben kaum Rücklagen, um die Durststrecke zu überwinden und sehen sich mit ähnlichen Problemen beim Zugang zu den Unterstützungsmaßnahmen von Bund und Ländern konfrontiert wie die Kinos. Sie haben gegenwärtig kaum Einnahmen.

Während Hollywood-Blockbuster und europäische Filmkunst schnell digital verfügbar wurden, blieb dies für deutsche Filme die Ausnahme. Das sogenannte Kinofenster im FFG schreibt eine Frist von mehreren Monaten zwischen Auswertung im Kino und der Online-Herausbringung vor und gilt weiter. Bislang wurden nur zwei Ausnahmen für potentielle Hits bewilligt. "Berlin, Berlin" lief am 8. Mai bei Netflix an. Und "Die Känguru Chroniken", Anfang März auf Platz eins der Kinohitparade, verzaubern seit Wochen auf dem heimischen Bildschirm. Der Verleih beteiligt die Kinos an den Einnahmen.

Gestoppte Produktionen Auch für die Produktionsfirmen federten die Corona-Hilfsprogramme sowie ein Hilfspaket von FFA und Länderförderer in Höhe von zehn Millionen Euro einige Härten ab. Eine genaue Übersicht über die Zahl der ausgefallenen Drehtage und der verschobenen Drehs hat keiner. Die internationale Ko-Produktion "Matrix 4" des Studios Babelsberg wurde eine Woche vor Drehbeginn gestoppt und Regisseurin Natja Brunckhorst musste den Dreh von "Alles in bester Ordnung" jäh unterbrechen. Ohne die Nothilfen wäre bei den Produzenten längst das Licht ausgegangen. Die Ausfallversicherungen greifen in der Pandemie nicht. Außerdem stehen die Unternehmen vor einem Problem bei der Finanzierung neuer Projekte. Keiner versichert das Ausfallrisiko für Folgen der Corona-Krise.

Die Anzahl der Hilferufe von den Firmen ist hoch, betätigen sowohl die Produzentenallianz als auch die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG Dok). Bei ihren Mitgliedern zeigt sich exemplarisch, warum so viele Filmemacher und Mitarbeiter aller Gewerke mit der Corona-Krise in soziale Not gerieten. Seit Jahren wird in der Filmbranche mit Magenschmerzen der Beteiligten dem Leitbild des armen Poeten nachgeeifert, der für seine Kunst lebt und seine Arbeit unter Wert verkauft.

An Filmsets arbeiteten Schauspieler und Crew oft auf Rückstellung. Das heißt, sie verzichten auf einen Teil ihrer Gage in der Hoffnung, den Rest bei einem Erfolg des Films zu erhalten. Meist warten sie vergeblich. Die Dokumentarfilmer drehen für Honorare, von denen sie knapp leben, aber weder eine Alterssicherung aufbauen noch Rücklagen bilden können. Auf die Unterfinanzierung der Produktionen und deren Folgen machen die Filmschaffenden und Produzenten seit Jahren vergeblich aufmerksam. Das jetzige Problem sei daher systemimmanent, stellte die kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Simone Barrientos, am 24. April im Kulturausschuss fest.

Grundsicherung Momentan gehören Filmschaffende zu den Millionen Menschen, die Grundsicherung beantragen müssen - was auf einen Vorschlag der Dienstleistungsgesellschaft ver.di zurückgeht. Der Frust vieler Betroffener ist verständlich. Der Papierkrieg ist immens. Zum fünfseitigen Grundantrag kommen Formulare für Selbständige und jedes Familienmitglied sowie etliche Kopien und eine betriebswirtschaftliche Aufstellung. Vor allem aber kommt das Geld nicht aus der Bazooka von Finanzminister Olaf Scholz (SPD), sondern von den Kommunen. Später fehlt es denen für den Erhalt ihrer Schulen, Bibliotheken, Stadttheater und kommunalen Kinos.

Von der AG Dok und den Verbänden der Filmschaffenden lag ein Alternativvorschlag zur Grundsicherung auf den Tisch: 60 Prozent des bei der Künstlersozialkasse (KSK) geschätzten Monatseinkommens sollte als Zuschuss innerhalb des Hilfsprogramms für Solo-Selbständige und Kleinunternehmer gezahlt werden. Allerdings kennen sie die Situation ihrer Mitglieder und forderten mindestens 1.500 Euro im Monat. Ein Kompromiss könnte der Vorschlag von Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat sein, jedem Betroffenen unbürokratisch 1.000 Euro pro Monat zu gewähren.

Der Dornröschenschlaf der Branche schlägt auf die Festivallandschaft durch. Publikumsfestivals wie Schwerin, München oder Ludwigshafen sind abgesagt. Die Kurzfilmtage Oberhausen findet Online statt. Doch auch die Festivals des Herbstes wie Hamburg, Chemnitz oder Hof bangen - es ist nur schwer abzuschätzen, welche Filme zur Verfügung stehen. Die Veranstalter haben ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt, aber die freien Moderatoren, Saalbetreuer oder Techniker gingen bislang leer aus. Kein Bundesland signalisierte, Monika Grütters zu folgen, und für die von ihm geförderten Festivals Ausfallhonorare zu zahlen.

Und natürlich leiden auch die technischen Betriebe. Ihre Expertise sei jetzt in großer Gefahr, da sie kaum noch Umsätze, hohe Fixkosten und wenig Rücklagen haben, aber von den bisherigen Hilfsmaßnahmen kaum berührt werden, meint Stefan Hoff, Vorstandsvorsitzender des Verbands technischer Betriebe (VTFF). Er fordert einen Hilfsfond in Höhe von 375 Millionen Euro.

Zur Abfederung der Krise brachte der VTFF den Einsatz von Mitteln aus dem Deutschen Filmförderfonds 2 (DFFF2) ins Gespräch. Doch Grütters dämpft diese Hoffnungen. Beim DFFF, dem German Motion Picture Fund (GMPF) und bei der kulturellen Filmförderung sind die veranschlagten Haushaltsmittel vollständig für Projektförderungen inklusive pandemiebedingter Nachbewilligungen verplant. Die Mittel werden voraussichtlich in voller Höhe ausgeschöpft. Es gebe keine Spielräume für Umwidmungen. Andererseits bleibt es dabei, was in diesem Jahr nicht ausgegeben wird, fließt zurück in den Bundeshaushalt.

Außerdem fordern die Filmschaffenden eine Anpassung der Richtlinien bei den Sonderregelung für den Bezug von Arbeitslosengeld 1 für Künstler und die Kinoverbände die Modifizierung der Regeln des Zukunftsprogramms Kino.

Alle wissen, dass kein Betrieb der Branche die Verluste der vergangenen Wochen ausgleichen kann. Sie braucht Unterstützung, damit die Infrastruktur erhalten bleibt. Die Verbände werden an die Bundesregierung und Parlamentarier mit Vorschlägen für das geplante Konjunkturprogramm herantreten.

Hygienekonzept Der Neustart wird zudem durch den Flickenteppich mit unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern erschwert. Berlin erlaubt wieder Dreharbeiten auf öffentlichem Straßenland. Nordrhein-Westfalen öffnet ab 30. Mai die Filmtheater. Das Hygeniekonzept, das AG Kino und HDF bereits am 23. April vorlegten, scheint überzeugt zu haben. Für viele Kinos stellt sich jetzt die Frage nach der Wirtschaftlichkeit, wenn die Kosten durch die Überwachung der Corona-Regeln steigen und nur ein Bruchteil der Stühle besetzt werden dürfen. Der Flickenteppich der Öffnungen behindert zudem die Arbeit der Verleiher, deren Filme bundesweit starten. Die vier Interessenverbände von Kino und Verleih hätten sich daher einen einheitlichen Wiedereröffnungstermin gewünscht, für den sie gerade an einem Konzept arbeiten.

Zu viele Produktionen Doch Monika Grütters sieht sich nicht nur in der Pflicht, Hilfe in der Not zu leisten. Sie sieht die Krise als Chance. Jahrelang sind sie und die Verantwortlichen in den Ländern den Bitten nachgekommen, die Zukunftsbranche zu fördern. Rund 450 Millionen Euro stehen jetzt zur Verfügung. Das führte zu einem Aufblähen der Produktion. Feierten Mitte der 1990er-Jahre rund 50 deutsche Filme im Jahr Premiere, sind es inzwischen bereits 250. Seit Jahren klagen die Kinos, dass dieses Volumen nicht zu stemmen sei. Viele Filme gehen auch unter, da bei ihrem Start kaum Mittel für das Marketing eingesetzt werden können. So entstand ein System, in der Produktion oft wie ein Selbstzweck wirkt.

Hauptnutznießer des gegenwärtigen Systems sind die Fernsehanstalten, die Hunderte Filme für geringe Beteiligungen an der Finanzierung erhalten. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen Dokumentarfilme und ihre Nachwuchsprogramme endlich wieder ausreichend finanzieren. Weitere Vorschläge für die Novellierung des FFG liegen auf dem Tisch, wobei im Zentrum stehen sollte, die Eigenkapitalbasis von Produzenten und Verleihern zu stärken.

Und vielleicht gelingt es sogar, internationale Koproduktionen aus dem deutschen Fördersystem zu verbannen und für sie nach internationalem Standard ein Rabattsystem aufzulegen. 180 Milliarden geben alleine die Streamingdienste jährlich für Inhalte aus. Deutschland ist für sie wegen der fehlenden Anreize als Produktionsstandort uninteressant, deutsche Produzenten müssen gar im Ausland drehen. Die Fortsetzung beispielsweise der Serie "Dark" wird in Liverpool gedreht.

Die Corona-Krise bietet die Chance, das Fördersystem auf den Prüfstand zu stellen. Von Grütters Amtsvorgänger Bernd Neumann (CDU) wird in Erinnerung bleiben, dass er mit dem DFFF ein damals innovatives Fördersystem schaffte und die Klage gegen das FFG abwendete. Seine Nachfolgerin könnte sich jetzt sich ins Geschichtsbuch als große Reformerin des FFG eintragen.

Die Autorin arbeitet als freie Filmjournalistin in Berlin.