REICHSTAG : Die Macht des Skandals
Abgeordnete rückten Missstände der deutschen Kolonialpolitik ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Debatten stärkten auch den Einfluss des Parlaments
Im Februar 1894 erschien der Sozialdemokrat August Bebel mit einer "Nilpferdpeitsche" im Reichstag. Mit ihr veranschaulichte er seinen Vorwurf, dass deutsche Kolonialbeamte brutal nackte Afrikanerinnen blutig auspeitschen ließen. Auch andere Abgeordnete griffen nun Zeitungsmeldungen auf, die über harte Körperstrafen und den sexuellen Missbrauch von Afrikanerinnen berichtet hatten. Damit eröffneten sie einen Reigen von Kolonialskandalen, die Reichstag und Öffentlichkeit die nächsten Jahrzehnte beschäftigen sollten.
Bislang hatten vor allem die Sozialdemokraten im Rahmen der Budgetdebatten immer wieder die hohen Kosten des Kolonialismus moniert, ohne großes Gehör zu finden. Die nun erhobenen Vorwürfe sorgten dagegen für eine breite emotionale Empörung über die Praktiken des Kolonialismus, die auch Teile der Zentrumspartei und der Linksliberalen erreichten. Dadurch gewann der Reichstag über das Budgetrecht hinaus neue Macht in der Kolonialpolitik. Dass in Ostafrika weiterhin Sklaverei herrschte und eine brutale Ausbeutung der "Schutzbefohlenen", wurde nun breit diskutiert.
So brachte Bebel im März 1895 im Reichstag vor, ein Gouverneur Deutsch-Ostafrikas habe sieben Männer wegen Nichtigkeiten aufhängen lassen. Und sein Parteigenosse Georg von Vollmar wies auf einen deutschen Bahnangestellten hin, der "nachts gewaltsam in die Häuser des Negerdorfes drang, 'um sich Weiber zu holen'". Im März 1896 gelang Bebel sein bisher größter Coup im Reichstag. Detailreich ausgeschmückt beschrieb er, wie der deutsche Kolonialheld Carl Peters sich eine Afrikanerin als "Beischläferin" gekauft und dann habe hängen lassen, als sie ein Verhältnis mit seinem Diener hatte. Als Quellen nannte Bebel vor allem kirchliche Kreise, um auch katholische und konservative Abgeordnete zu überzeugen. Die prinzipielle Bestätigung durch das Kolonialamt führte laut Protokoll zu "stürmischen Unterbrechungen".
Diese oft monatelangen Berichte über die Kolonialskandale, die Karikaturen, Parlamentsdebatten und Prozesse zwangen die breitere Öffentlichkeit, sich über die kolonialen Praktiken ein Urteil zu bilden. Selbst in den Kneipen diskutierten die Arbeiter dank der Reichstagsdebatten über die Kolonien, wie Spitzelberichte belegen: Es sei "unglaublich, wenn man hört, wie die höheren Beamten dort über Leben und Tod der Menschen urteilen". Andere klagten über die geringen Strafen für die leitenden Kolonialbeamten und waren erschüttert, dass Beamte durch sadistische Taten selbst zu "Wilden" wurden. So vermerkten sie nach Bebels Reichstagsrede 1896: "Wenn man die Aufzeichnungen von B. [Bebel] lese, so denke man, es könnte gar nicht möglich sein, dass Deutsche so handeln können, aber man müsste es glauben, da es ja nicht die ersten Fälle von Grausamkeiten sind."
Diese Reichstagsdebatten Mitte der 1890er Jahre hatten Folgen: Die körperliche Bestrafung der Afrikaner, die in der öffentlichen Diskussion weiterhin mehrheitlich als notwendig erschien, wurde offiziell auf das Maß der Briten reduziert, stärker normiert und kritischer öffentlich beobachtet. Ebenso kam es dank der Skandale zur Umstrukturierung der Kolonialverwaltung und Versorgung.
Allerdings führten die äußerst brutal geführten anschließenden Kriege in den Kolonien kaum zu wirkungsmächtigen Skandalen. Die Sozialdemokraten protestierten erneut. Nach der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China 1900 las Bebel im Reichstag etwa einzelne Passagen aus Berichten von Soldaten über den brutalen Einsatz vor: "Alles was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, alles wurde abgeschlachtet", hieß es etwa hier. Und 1904 führte er im Reichstag die Aufstände der Hereros auf "Misshandlungen schlimmster Art" und "sittliche Verfehlungen der Weißen gegen Hererofrauen" zurück. Aber öffentlich setzten sich eher Narrative durch, die die Gewalt von Chinesen oder Afrikanern gegen europäische Frauen vermittelten. Selbst ein kolonialkritischer Abgeordneter wie Matthias Erzberger stimmte 1904 den Mitteln für den Truppeneinsatz gegen die Hereros zu, weil "eine deutsche Frau, die diesen Unmenschen in die Hände fällt, von einem ganze Dorf missbraucht wird, worauf man sie förmlich hinschlachtet".
Einen starken kolonialpolitischen Einfluss erreichte der Reichstag durch neue Skandale 1905/06. Vor allem sozialdemokratische und freisinnige Reichstagsabgeordneten brachten erneut zahlreiche Fälle grausamer Prügelstrafen und sexueller Normbrüche durch deutsche Kolonialbeamte auf. Der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger prangerte die Bereicherung von Handelsfirmen wie Woermann und Tippelskirch an, die dank korrupter Verflechtungen mit Beamten überhöhte Preise verlangten. Dank seiner Arbeit in der Budgetkommission präsentierte er souverän Finanzbilanzen, die er in plastischen Bildern beschrieb, etwa anhand überzogener Socken- und Schuhpreise. In Hamburgs Kneipen kommentierten dies die Gäste laut Spitzelbericht: "Erzberger ist ein Mann, der mir gefällt. Er sucht alle Fehler aufzudecken und zu besprechen."
Die Folgen dieser Kolonialskandale 1906 waren nachhaltig und unterstrichen abermals die neue Macht von Reichstag und Öffentlichkeit. Die Korruptions- und Monopolvorwürfe führten zur Kündigung der Lieferverträge mit Woermann und Tippelskirch. Auch die personellen Folgen waren erheblich: Der Gouverneur von Togo, Waldemar Horn, verlor bereits 1905 seinen Posten, ebenso dann der Direktor der Kolonialabteilung, Oskar Stuebel, und 1907 der Gouverneur von Kamerun, Jesko von Puttkamer. Der spektakulärste Rücktritt infolge der Skandale war der des Staatssekretärs und preußischen Landwirtschaftsministers Victor von Podbielski, nachdem sich der Verdacht auf Vorteilsnahme und Korruption erhärtete. Durch seine kommunikative Macht konnte der Reichstag damit durchaus Einfluss auf die Regierung nehmen. Neu an die Spitze der Kolonialabteilung trat der liberal orientierten Bernhard Dernburg, der eine verstärkte Untersuchung, Disziplinarverfahren und Reformen einleitete.
Nach den Skandalen lehnte der Reichstag im Dezember 1906 nach langer Debatte die Haushaltsmittel für die Kriegsführung in Deutsch-Südwestafrika ab. Reichskanzler Bernhard von Bülow reagierte mit der Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Diese gingen als "Hottentottenwahlen" in die Geschichte ein, da die Kolonialpolitik ganz im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand. Dass sich hier der "Bülow-Block" aus Konservativen und Liberalen behaupten konnte, lag auch daran, dass der Kanzler nach den Skandalen für Reformen eingetreten war.
Eng verflochten Insgesamt zeigte sich, dass der Reichstag zu einer gewissen Eindämmung kolonialer Gewalt im späten Kaiserreich beitragen konnte. Zudem stärkten die Skandale die SPD, da sie Feindbilder über die Doppelmoral adliger und bürgerlicher Eliten reaktivierten und einen Schulterschluss zum Zentrum und den Linksliberalen schufen. Die Skandale zeigen dabei, wie eng verflochten Politik und Massenmedien bereits damals agierten: Vorwürfe wurden wechselseitig aufgebracht, aufgegriffen und verstärkt. Die Reden im Reichstag richteten sich über die Medien an die ganze Nation und die Weltöffentlichkeit und wurden entsprechend intensiv rezipiert.
Der Autor ist Professor für europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.