KULTUR : »Es ist eher die Zeit der Abschieds- als der Liebesszenen«
Das Schaffen von Künstlern und Kreativen leidet unter den Abstands- und Hygieneregeln. Für viele Selbstständige ist die Pandemie vor allem eine soziale Krise
"Hier ruht die Kultur", lautet die Inschrift auf einem Kreuz im Schaufenster des kleinen Mode-Kunst-Kulturkaufhauses "friendly society" in Berlin-Mitte. Die Galerie, ein Teil des Minikaufhauses, betreut Christian Heinrich, ein studierter Künstler. Tot ist die Kultur zwar nicht und das Kaufhaus muss auch nicht schließen. Aber reformbedürftig ist die Kulturszene in einigen Bereichen. Die Corona-Krise legte ihre Schwachstellen schonungslos offen.
In der Galerie von Heinrich ruht im Moment einiges, was sie seit 17 Jahren ausmacht - neben der Plattform für Werke von rund 30 Künstlern auch Kultursalon und Café zu sein. Er setzt seit Corona alles nur noch auf den Bilderverkauf. Zu tief in den Knochen stecken ihm neun Wochen Quarantäne, davon sieben in Spanien, zwei in Berlin. Bloß keine Vernissagen. Laut Hygieneschutzregeln dürfte er auf den 70 Quadratmetern ohnehin nur vier Besucher gleichzeitig empfangen. "Wenn nur einer infiziert ist, muss ich wieder für zwei Wochen schließen", sagt Heinrich. Er ist froh über seine Doppelfunktion als Künstler und Galerist. Die Summe der Einkünfte sichert ihn ab. Aber er sorgt sich sehr um andere Galeristen, die nach 1989 nach Berlin strömten und nicht wissen, wie sie existieren sollen. Das sei schon lange so, aber Corona habe deren Misere noch einmal verstärkt.
Überangebot scheint ein verbreitetes Thema in der Kulturszene zu sein. Gregor Sigl, Bratscher im bedeutenden Artemis-Streichquartett, wundert sich, wenn er im Veranstaltungskalender für Berlin blättert. Woher sollen bloß all die Zuschauer herkommen? Die weltberühmten Berliner Philharmoniker sind da eher eine Ausnahme. Vor Corona wiederholten sie ihre Programme in Konzerten gleich an vier aufeinanderfolgenden Abenden, und der Scharoun-Bau mit seinen rund 2.200 Plätzen war meistens ausverkauft. Einige andere exzellente Orchester versuchten das ähnlich, es funktioniere aber nur bedingt. "Es wird sich kaum vermeiden lassen, dass eine Auslese passiert. Das war nie anders. Wenn man sich die Geschichte anschaut, ist es in der Kunst immer ziemlich gnadenlos zugegangen und in der Musik allemal. Diejenigen, die es dann trifft, haben es nicht unbedingt verdient", meint Sigl.
Auf Distanz Das 1987 gegründete Artemis-Quartett hat seit dem vergangenem Jahr zwei neue Mitglieder und wurde von Corona in der "brodelnden Findungsphase" getroffen. Das letzte Konzert vor dem Lockdown war Ende Februar, das erste Konzert nach den Lockerungen mit Publikum am 21. Juni im Leipziger Gewandhaus. Alle vier Musiker auf jeweils zwei Meter Abstand zueinander, nicht mehr aufeinander lauschend, sondern auf Sichtkontakt spielend. "Sehr unnatürlich für ein Streichquartett", befindet Sigl. Die geplante große USA-Tournee im Oktober sei endgültig abgesagt. Artemis spielt jährlich drei Programme, die in 60 bis 70 Konzerten aufgeführt werden. Deshalb kann es den Ausfall auffangen. Außerdem haben alle Mitglieder ein weiteres Standbein: Sigl und Vineta Sareika bekleiden Teilprofessuren, Suyoen Kim ist Konzertmeisterin und Harriet Krijgh Solistin. Finanziell beruhigend sei zudem ein gemeinsames Konto, sagt Sigl.
Das Ausweichen in die virtuellen Welten bietet zwar auch der Kultur neue Möglichkeiten, ist aber kein Allheilmittel. Beispiel Kunsthochschulen. Corona habe ihnen einen "digitalen Schub" verliehen, sagt der Rektor an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin (HfS), Holger Zebu Kluth. "Wir sind ganz schnell eine digitale Hochschule geworden." Mit Hilfe der Gelder, die der Berliner Senat zügig bereitstellte. Was sich an der Hochschule mit 244 Studierende reibungslos anhört, klingt an der Universität der Künste in Berlin (UdK), mit knapp 4.000 Studierenden eine der größten in Europa, holpriger: "Es gab eine Taskforce von etwa 70 Leuten, die versucht haben, das digitale Problem - Ausstattung der Unterrichtsräume, Plattformen, um Bewerbungsvideos herunterzuladen - zu lösen, was nur unbefriedigend gelungen ist", schildert Hans Joachim Greiner, langjähriger Professor für Bratsche. Dann kam der Lockdown an sämtlichen Hochschulen in Berlin und Online-Teaching musste funktionieren. Mit allen Chancen und Tücken: Ein Manko war die Aufnahmetechnik. Und das in einem Bereich, der von der Beurteilung des Klanges lebt. "Wenn der große Geiger Pinchas Zuckermann im Internet zu hören ist, klingt es, als stünde er in deinem Zimmer", sagt Greiner. Diese hochwertigen Mikrofone könnten sich Studierende jedoch nicht leisten. Als weitere Schwierigkeit zeigte sich, ständig darauf achten zu müssen, richtig im Bild zu stehen, um sich gegenseitig beobachten zu können. Hinzu kommt die immense Konzentration, die erforderlich sei. Online-Teaching sei nicht dasselbe wie Live-Unterricht, aber ein guter Ersatz, resümiert Greiner. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Kluth, der das Internet in einigen theoretischen Fächern sehr hilfreich findet.
Galerist Heinrich hingegen hat das Internet als Ausstellungsfläche seit langem abgeschrieben und Corona lässt ihn nicht umdenken. Seine Kunden wollen Originale mit eigenen Augen sehen, "die Aura des Werkes spüren".
Neue Formate Als neues Format hat der weltberühmte Thomanerchor in Leipzig Teil-Kantoreien eingeführt, um die Abstandsregeln zu befolgen: Jeweils 15 Sänger proben und konzertieren in dieser Formation. Für die "Kantorei-Tour 2020" wurden nach Auskunft des Geschäftsführenden Leiters, Emanuel Scobel, alle Sänger auf Covid-19 getestet. Auslandstourneen nach Übersee werden derzeit nicht geplant. Immerhin darf in Sachsen gesungen werden, in Berlin aber nicht. Greiner ärgert sich über den Föderalismus an dieser Stelle, der es den Ländern erlaubt, eigene Wege zu gehen. Das macht sich im Live-Unterricht bemerkbar, der nach Ende des Lockdowns auch in Berlin wieder möglich ist. Die Abstandsregeln sehen so aus: 1,5 Meter für leises Sprechen, drei Meter fürs Brüllen, Singen verboten. "Man kann im Moment Monologe üben. Es ist eher die Zeit der Abschieds- als der Liebesszenen", meint Hochschulrektor Kluth. Für ihn ist es ein "Jammerspiel", dass von den 110 Plätzen der Studiobühne gerade einmal 16 bis 25 Plätze besetzt werden dürfen. Das ist im Mendelssohn-Saal im Leipziger Gewandhaus ähnlich: Sigl erinnert sich an das Artemis-Konzert, bei dem gerade einmal 80 Personen zuhören durften. Eine Stunde Konzert, Saal-Desinfektion, zweieinhalb Stunden später Wiederholung des Konzerts für die nächsten 80 Zuhörer. "Die Pandemie ist für den Kulturbereich ein einziger, zurzeit nicht enden wollender Albtraum. Es wird wahrscheinlich noch für lange Zeit Einschränkungen geben, die besonders jene im Kulturbereich Tätige treffen, die für ein Publikum arbeiten", bringt es der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, auf den Punkt.
Ganz unterschiedlich fallen die Bewertungen hinsichtlich des künstlerischen Schaffens aus. Die Corona-Krise fördere nicht die Kreativität in der Musikwelt, ist sich Eckart Hübner, Prodekan der Musik-Fakultät an der UdK sicher: "Sie ist nur zerstörerisch." Die Geschäftsführerin vom Deutschen Komponistenverband, Antje Müller, weiß von einigen Komponisten, dass sie in eine Art "Schockstarre" verfallen seien. Aber offensichtlich trifft das nicht auf alle zu. Die 24-jährige Musicalsängerin Linda Hartmann - bis Corona von der Oper Neukölln engagiert - bietet ihren Mezzosopran neuerdings im Internet an. Sie hört von jedem "zweiten Musikerfreund", der Quarantäne-Songs fürs Internet schreibt. Und dann gibt es den Graffiti-Künstler Eme Freethinker, der die Corona-Krise augenzwinkernd in Szene setzt.
Für viele Kulturschaffende ist die Corona-Krise aber vor allem eine soziale. Bei der Künstlersozialkasse gingen zwischen März und Anfang Mai knapp 36.000 Anträge auf Anpassungen der jährlichen Einkommensschätzungen ein. Müller dringt auf Gerechtigkeit: "Die Kreativen in Deutschland fordern eine Gleichbehandlung mit anderen Soloselbstständigen wie Ärztinnen und Rechtsanwälten, die Ausfallgarantien bis zu 90 Prozent des Jahresumsatzes 2019 bekommen. Schließlich zahlen Komponistinnen genauso Steuern." Hübner warnt: "Wir befinden uns in einer auch sozial dramatischen Krise für die Künstler und die Kunst. Jeder Ansatz, der versucht zu sagen, dass dies auch mal ganz gesund sein kann und neue Kräfte freisetzt, ist sehr gefährlich."
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.