Schweden : Skandinavischer Sonderweg
Auch ohne harten Lockdown schrumpft die Wirtschaft
Der "schwedische Weg", er erhitzt seit April die Gemüter: Gegner der Corona-Maßnahmen in Deutschland führen ihn als gangbare Alternative an, in den meisten Medien gilt er jedoch als Irrweg. Das skandinavische Land meistert die Corona-Krise ohne Lockdown und Maskenpflicht, zahlt aber dafür bislang einen verhältnismäßig hohen Preis an Menschenleben.
Mitte Juli lag das Zehn-Millionen-Land bei etwa 76.500 nachgewiesenen Corona-Infektionen und etwa 5.600 an oder mit Corona Verstorbenen. Deutschland hatte zum gleichen Zeitpunkt etwa 9.100 Todesfälle. Allerdings lohnt ein Blick auf den zeitlichen Verlauf der Pandemie in Schweden: Mitte April lag die Zahl der Corona-Toten an einem Tag mit 115 am höchsten, seitdem sinkt sie konstant. Am 11. Juli starben nur noch elf Menschen an oder mit Corona. Zudem hat Schweden die Tests im Juni massiv ausgeweitet, was zum Teil die gestiegenen Infektionszahlen erklärt. In der letzten April-Woche wurden knapp 25.000 Tests durchgeführt, davon waren 17 Prozent positiv. In der letzten Juni-Woche waren es dreimal so viele Tests, davon waren zehn Prozent positiv.
Hinter der schwedischen Strategie steht der Staatsepidemiologe der Gesundheitsbehörde, Anders Tegnell: Von Anfang an setzte er auf Ge- und nicht auf Verbote. Die Bevölkerung wurde angehalten, von zu Hause aus zu arbeiten und sich bei Anzeichen einer Erkältung zu isolieren. Nur weiterführende Schulen und Universitäten wurden geschlossen, die übrigen Schulen und Kindergärten blieben offen. Die Schweden unterstützen den Kurs: Laut einer Umfrage der Zeitung "Dagens Nyheter" ging die Zahl derer, die der Gesundheitsbehörde "eindeutig vertrauen", im Juni zwar zurück, ist aber mit 57 Prozent noch immer hoch. Anders Tegnell unterstützten 60 Prozent der Befragten.
Um Tegnells herausragende Rolle zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Besonderheit der schwedischen Verfassung, die den Behörden weitreichende Kompetenzen einräumt: Tegnells Behörde gibt Ministerpräsident Stefan Löfven die Handlungsempfehlungen, dieser ist nur ausführendes Organ.
Doch auch Löfven konnte von der Krise profitieren. Seine in einer Minderheitsregierung regierenden Sozialdemokraten waren mit fast 34 Prozent Unterstützung im Juni die mit Abstand stärkste Partei - verglichen mit 25 Prozent im November.
Am meisten diskutiert die schwedische Öffentlichkeit jetzt darüber, ob man die Alten besser hätte schützen können: Etwa die Hälfte der Corona-Opfer starb in den Pflegeheimen. Der Ministerpräsident hat Ende Juni eine Untersuchungskommission eingesetzt, die bis Anfang 2021 eine Bewertung der Corona-Strategie liefern soll.
Cluster in den Vororten Für die meisten Schweden ist das Virus bis heute "unsichtbar": Denn während die Ansteckungen in den Vierteln der Städte, in denen die "autochthone" Bevölkerung lebt, weitgehend auf die Pflegeheime beschränkt sind, wurden die von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten Vororte in vielen Landesteilen zu Infektionsclustern. Eine Studie der Gesundheitsbehörde ergab, dass die Ansteckungszahlen unter Menschen, die in der Türkei, in Äthiopien oder Somalia geboren wurden, viermal höher als unter in Schweden geborenen Menschen war.
Die Gründe für die wachsenden Zweifel an der Regierung sind eher in den Konsequenzen der Corona-Krise zu sehen: Zum einen ist den Schweden in der Urlaubszeit durch die weiter hohen Corona-Zahlen der Weg in die meisten Urlaubsländer verschlossen. Zum anderen spüren sie nun, dass das Land wirtschaftlich ähnlich stark getroffen ist wie andere Länder. Weil es keinen Lockdown verhängte, war der Einbruch im Einzelhandel und in der Gastronomie zu Anfang zwar weniger stark als anderswo. Mittlerweile geht das Nationale Institut für Wirtschaftsforschung für 2020 aber von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 5,5 Prozent aus; in Deutschland wird mit minus 6,5 Prozent gerechnet.
Der Moment der Wahrheit könnte im Herbst kommen. Tegnell gab sich zuletzt in der Financial Times optimistisch: "Im Herbst wird es eine zweite Welle geben. Schweden wird ein höheres Niveau an Immunität haben, und die Fallzahlen werden vermutlich eher niedrig sein." Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Strategie aufgehen könnte: Laut einer Studie der Gesundheitsbehörde hatten Ende April in der Region Stockholm 7,3 Prozent der Menschen Antikörper gegen das Corona-Virus entwickelt, in Skane - dazu gehört die Großstadt Malmö - 4,2 Prozent. Da zwischen einer Infektion und der Entwicklung von Antikörpern mehrere Wochen liegen, glaubte Tegnell, dass man Ende Mai in Stockholm "irgendwo bei 20 Prozent plus" lag. Schweden wäre damit seinen Nachbarländern voraus.
Der Autor leitet das Ressort Berliner Republik beim "Cicero".