Brasilien : Von der Hand in den Mund
Covid-19 vertieft die Armut im größten Staat Südamerikas weiter
Nach Brasilien ist das Virus durch Touristen, die aus Italien heimkehrten, gekommen. Für großes Aufsehen sorgte der erste Todesfall in Rio de Janeiro: Er deutete bereits an, dass die Pandemie die große soziale Ungleichheit in Brasilien verstärken würde. Eine dunkelhäutige Putzfrau aus der armen Peripherie war von ihrer weißen Chefin einbestellt worden, obwohl diese positiv auf Covid-19 getestet worden war. Die Putzfrau infizierte sich und starb, ihre Chefin überlebte.
Die größte in Brasilien durchgeführte epidemiologische Studie belegt nun, dass arme Brasilianer ein doppelt so hohes Infektionsrisiko haben wie wohlhabende. Im ärmeren Nordbrasilien haben sich zehn Prozent der Bevölkerung infiziert, wie die Wissenschaftler der Bundesuniversität Pelotas festgestellt haben; im reichen und europäisch geprägten Süden hingegen nur ein Prozent.
Besonders stark von der Pandemie betroffen sind Brasiliens Ureinwohner. Anfang Juli gab es zwischen 8.000 und 9.000 infizierte Indigene und mehr als 400 Covid-19-Tote. Die Mortalität unter den rund eine Million Ureinwohnern liegt 150 Prozent über dem landesweiten Durchschnitt.
Insgesamt verzeichnete Brasilien Mitte Juli circa 75.000 Covid-19-Tote und rund zwei Millionen Infizierte. Hinter diesen Zahlen verbergen sich allerdings hohe Dunkelziffern. Wissenschaftler vermuten aufgrund von Vergleichen und Berechnungen, dass es 500 Prozent mehr Infizierte und deutlich mehr Tote geben könnte. Das Problem sind fehlende Tests; in Brasilien werden nur Menschen mit schweren Symptomen wie Atemnot kostenlos getestet. Gleichwohl haben Brasiliens Behörden schnell reagiert, nachdem die ersten Fälle auftauchten. Wie in vielen EU-Ländern waren die Quarantäne-Regeln umfassend, das öffentliche Leben kam praktisch zum Erliegen. Lediglich Unternehmen aus der Lebensmittelbranche und einige andere Schlüsselindustrien funktionierten weiter.
Vom Stillstand sofort beeinträchtigt waren die mindestens 40 Millionen Arbeiter im informellen Sektor, Menschen also, die von der sprichwörtlichen Hand in den Mund leben. "Wenn ich tagsüber nicht arbeite, dann esse ich abends nicht", beschrieb einer von ihnen die Situation. Für sie beschloss die Regierung eine monatliche Hilfszahlung von umgerechnet hundert Euro, deren Auszahlung allerdings nur schleppend anlief und bis heute von Unregelmäßigkeiten begleitet ist.
Der Ausbruch von Hunger wurde vor allem durch die schnelle Hilfe von Hilfsorganisationen, Kirchen, Favela-Gruppen, Privatinitiativen, Kleinbauern und Unternehmen verhindert. Sie verteilten Millionen von Lebensmittelpaketen in den Armenvierteln.
Renitentes Staatsoberhaupt Auch Brasiliens Medien spielten eine positive Rolle: In ausführlichen Nachrichtensendungen wurde immer wieder betont, wie wichtig es sei, dass die Menschen Zuhause blieben und die Hygieneregeln befolgten. Die rund 210 Millionen Brasilianer hielten sich weitgehend an die Anordnungen. Es war ausgerechnet Präsident Jair Bolsonaro, der die Anstrengungen zur Eindämmung der Pandemie behinderte. Verärgert über die absehbar drastischen Folgen für Brasiliens Wirtschaft, rief er die Menschen dazu auf, ihrem Alltag wieder nachzugehen. Das Land dürfe wegen dieses "Grippchens" nicht stillstehen, sagte er.
Anfang Juli gab Bolsonaro, der demonstrativ ohne Maske auftritt, bekannt, positiv auf Covid-19 getestet worden zu sein. Bei der Gelegenheit bewarb er das Medikament Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Covid-19, das er selbst einnehme. Dabei raten Gesundheitsbehörden von dem Mittel ab, weil es keine nachweisbare positive Wirkung habe, aber drastische Nebenwirkungen verursachen könne. Bolsonaros Benehmen führte zum Rücktritt von Gesundheitsminister Henrique Mandetta. Dessen Nachfolger Nelson Teich nahm nach nur 27 Tagen Mitte Mai seinen Hut. Brasiliens Gesundheitsressort wird seitdem von einem General ohne nennenswerte Expertise geleitet.
Seit Anfang Juli werden die Quarantäne-Maßnahmen in Brasilien wie in Europa zurückgefahren. Epidemiologen warnen jedoch vor der Öffnung, weil die Kurve mit den Neu-Infektionen immer noch ansteigt.
Tatsächlich folgen die Öffnungsentscheidungen weniger wissenschaftlichen Kriterien, sondern haben vielmehr mit einer allgemeinen Quarantänemüdigkeit und den nur noch schwer zu vermittelnden wirtschaftlichen Konsequenzen zu tun. Brasiliens Zentralbank geht derzeit von minus 6,5 Prozent Wachstum aus. Die Arbeitslosenquote dürfte auf mehr als 20 Prozent steigen.
Der Autor ist freier Journalist in Brasilien.