Wandel : Update nötig
Tiefgreifende Veränderungen in der Parteiarbeit brauchen Zeit. Doch die Pandemie hat gezeigt: Eine digitale Demokratie braucht auch digitale Parteien
Die COVID-19-Pandemie hat die Gesellschaft innehalten lassen. Die Menschen mussten auf Distanz zueinander gehen, und das Zuhause wurde zum Ort des digitalen Austausches: Freunde trafen sich auf ein virtuelles Feierabendbier, Yoga-Kurse fanden vor Bildschirmen statt und in Sozialen Medien wurden viele in der Corona-Zwangspause vollendete Projekte sichtbar. Aber nicht nur die Gesellschaft, auch die Parteien erfuhren einen radikalen Digitalisierungsschub.
Wie überall mussten der kommunikative Austausch und die Arbeitsabläufe auch in den Parteien digitalisiert werden, um handlungsfähig zu bleiben. Der Übergang in diese neue Normalität - auf Distanz - ist nun im Aushandlungsprozess. Von allen Partei-Seiten wurde betont, längst in der digitalen Moderne angekommen zu sein und Freude an den neuen Instrumenten zu finden. Ob beim "digitalen Parteitag" von Grünen und CSU im Mai oder dem "DigiCamp" der CDU: Alle einte, mehr oder weniger, zwischen Symbolik und Beschlussfassung angelegt zu sein.
Das Zurschaustellen digitaler Organisationsstrukturen ist letztlich Ausdruck der Bestrebungen, die es bereits vor Corona in den Parteien gab. In der Blütezeit der netzpolitischen und experimentierfreudigen Piratenpartei legten die unter Wettbewerbsdruck geratenen etablierten Parteien ihre digitalen Fundamente. Parteimitglieder gründeten Vereine zur Erarbeitung von digitalem Sachverstand, wie das CDU-nahe C-Netz oder die Vereine D64 (SPD), Digitale Gesellschaft (Grüne) oder LOAD (FDP). Doch blieben Vorbehalte bestehen. Die innerparteilichen Beharrungskräfte sind groß und Parteiarbeit ist in ihrem Grundsatz analog und hierarchisch. Auch wurde der Bedeutungsverlust der Piratenpartei als Zeichen dafür gelesen, dass digitale Organisationsformen letztendlich nur sehr eingeschränkt erstrebenswert seien.
Aus analog wird digital? Nichtsdestotrotz nutzen Parteien eine Vielzahl an Kanälen, mittels derer sie sich sowohl an die Öffentlichkeit, als auch an ihre Mitglieder richten: Verschiedene Social-Media-Kanäle werden bespielt, kein Trend soll mehr verpasst und möglichst jedes Eckchen in der schier unendlichen Weite des Internets erreicht werden. Allzu oft bleibt es jedoch bei der Übersetzung analoger Formate ins Digitale. So werden etwa Soziale Medien von Parteien immer wieder mit Litfaßsäulen verwechselt, an denen Werbeplakate ausgehängt und anschließend vergessen werden können.
Doch das Internet ist keine Litfaßsäule, sondern gleichzeitig ein Marktplatz, ein Wahlkampfstand, und ein Sitzungssaal des eigenen Ortsverbands. Es brauchte Zeit, bis dies in den Parteizentralen erkannt wurde. Inzwischen gibt es in allen Parteien Abteilungen, die sich um digitale Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern bemühen und Einblicke aus dem Parteileben für Instagram, YouTube, WhatsApp oder Telegram aufbereiten.
Für Aufsehen sorgte die im Frühjahr 2018 angekündigte Einrichtung eines sogenannten "Newsrooms" durch die Alternative für Deutschland (AfD). Das erklärte Ziel dahinter: Die Möglichkeiten direkter digitaler Kommunikation zu nutzen, alternative Nachrichten zu den etablierten Medien zu produzieren und diese in Richtung der eigenen Anhängerschaft zu verbreiten. "Solange die AfD von vielen Medien ignoriert oder mit Fake News gezielt schlecht gemacht wird, kann es nur diesen einen Weg geben", begründete die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel den Schritt. Auch andere Parteien sahen die Chance digitaler Selbstdarstellung in Eigenregie und gründeten Nachrichtenräume - allerdings ohne dies als Alternativangebot zu etablierten Medien zu verstehen. So ist FDP-Fraktionschef Christian Lindner schon lange nicht mehr der einzige, der selbst Instagram-Stories produziert: Eine Reihe von Politikerinnen und Politikern hat sich eine Fangemeinde in den Sozialen Medien erarbeitet, darunter die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken, der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz oder die Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU).
Die Kehrseite Eine Präsenz in den Sozialen Medien gehört zum politischen Alltag. Als Grünen-Chef Robert Habeck sich entgegen des Trends entschloss, seinen Twitter-Account zu schließen, gab es harsche Kritik. Er begründete dies mit Erfahrungen, die viele andere, insbesondere Politikerinnen und Politiker, machen mussten: In keinem anderen digitalen Medium gebe es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze. Es ist die Kehrseite von Sichtbarkeit, Transparenz und direkter Interaktion und weit verbreitet in Sozialen Medien. Den traurigen Tiefpunkt bildete die Entscheidung des Landgerichts Berlin, das Beschimpfungen und Beleidigungen der Grünen-Politikerin Renate Künast auf Facebook nicht als Rechtsverstöße wertete. Erst Monate später wurde dies in nächster Instanz teilweise revidiert.
Dem Anspruch der Netzaffinen in Parteien, stärker digital zu arbeiten, wird zunehmend durch eigene Entwicklungen entsprochen: Was in der SPD als "virtueller Ortsverein" zwischen 1998 und 2011 zunächst scheiterte, wurde mittlerweile neu aufgelegt. Als experimentelles "Debattenportal" seit September 2018 getestet, wurde ein themenbasiertes Online-Diskussionsangebot für Mitglieder entwickelt, um sich digital zu vernetzen und Positionen zu erarbeiten. Im Laufe des Jahres 2019 wurde es unter dem Namen "Online-Themenforen" weiterentwickelt und auf dem Parteitag im Dezember beschlossen. Das Ergebnis: Online-Themenforen haben nun das Recht, als digitale Gruppen Themenanträge auf Parteitagen vorzustellen. Bereits seit längerer Zeit installiert und erprobt ist ein solches System bei den Grünen.
Ausgebremst Zu den digitalen Updates verhelfen Parteivorständen Berater, die früher als "digitale Nerds" bezeichnet wurden und heute gute Chancen haben, in wichtige Positionen vorzurücken. Denn es geht um nicht weniger als den Selbsterhalt. Schon in der vor-digitalen Zeit wurde problematisiert, dass sich die Parteien zu stark um sich selbst drehen. Angesichts dramatisch sinkender Mitgliederzahlen, einer mangelhaften Rückkopplung politischer Entscheidungen und dem Gefühl vieler, von der Politik "abgehängt zu werden", war immer wieder die Rede von einer zunehmenden Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass insbesondere die digital affinen, jungen Menschen in Parteien und Parlamenten unterrepräsentiert sind und die Wahlbeteiligung bei unter 30-Jährigen am niedrigsten ist. Kaum ein junger Mensch kann sich heute vorstellen, seine politischen Forderungen über Parteiarbeit zu verwirklichen. Für viele gehören sie zusammen mit Videotheken und Audiokassetten ins Museum der vor-digitalen Zeit - trotz aller Modernisierungsbemühungen. Sinnbildlich dafür steht der wenig souveräne Umgang der Christdemokraten mit dem YouTuber Rezo und seinem Video "Die Zerstörung der CDU" im vergangenen Jahr. Dies ließ erahnen, wie sehr sich alte und neue Logiken in der Parteiorganisation immer wieder gegenseitig ausbremsen. Was aktuell erst schemenhaft erkennbar wird, könnte sich retrospektiv als die Geburtsstunde der digitalen Parteien erweisen. Es wird gemeinsam experimentiert, Probleme werden offen gelegt, Mitglieder erleben, wo ihnen digitale Wege helfen und wo sie das persönliche Treffen schmerzlich vermissen.
Die Krise kann für die Parteien die Chance bieten, mit neuem Erfahrungs- und Sachverstand über ihre Arbeitsweise und Strukturen zu debattieren und sich als Netzwerk neu zu erfinden. Wegen des Distanzgebots wird Parteiarbeit anders funktionieren und sicherlich digitaler und hybrider sein. Für tiefgreifende Veränderungen braucht es mehr Zeit, doch eines ist schon jetzt klar: Eine digitale Demokratie braucht auch digitale Parteien. Sie haben in der repräsentativen Demokratie eine Schlüsselrolle, die keine andere politische Organisation ausfüllen kann.