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FALL AMRI : Jederzeit damit gerechnet

Ex-Innenminister de Maizière erinnert sich an den Abend des Attentats vom Breitscheidplatz

21.12.2020
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4 Min

Es war das abrupte Ende einer Weihnachtsfeier. Am Abend des 19. Dezember 2016 saß Thomas de Maizière (CDU) mit Mitarbeitern seines Büros in einem Berliner Restaurant, als die Nachricht, auf dem Breitscheidplatz sei soeben ein tonnenschwerer Laster in eine Budengasse des Weihnachtsmarkts vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche geprescht, die Runde jäh auseinander trieb. Der damalige Bundesinnenminister eilte ins Lagezentrum seines Hauses und rief als ersten seinen Berliner Kollegen an, den erst wenige Tage zuvor ins Amt gelangten Innensenator Andreas Geisel (SPD). Den spontanen Impuls, den Katastrophenort sehen zu wollen, ließ er sich ausreden. Wer konnte wissen, was an diesem Abend womöglich noch drohte?

Es wird in der vorigen Woche nicht das erste Mal gewesen sein, dass de Maizière diese Geschichte erzählte. Der Zeiger war schon auf nach 21 Uhr vorgerückt, und der Amri-Untersuchungsausschuss hatte fast elf Sitzungsstunden hinter sich, als der Ex-Minister den Europasaal des Paul-Löbe-Hauses betrat. Als letzter von vier Zeugen des Tages, als allerletzter des zu Ende gehenden Jahres, als einer der bisher prominentesten ohnehin. Wie in solchen Fällen üblich, waren vor Beginn der Befragung die ersten Minuten Fotografen und Kameraleuten vorbehalten, um den Auftritt im Bild zu verewigen. Vergleichbares Aufsehen erregen die Zeugen dieses Ausschusses in der Regel nicht.

Erinnerung an Nizza Er habe, erinnerte sich de Maizière, damals in der gemütlichen Runde keinen Augenblick gezweifelt: "Ich dachte sofort, das ist ein terroristischer Anschlag." Die Bilder des Attentats in Nizza, als fünf Monate zuvor ein Islamist in einem Lastwagen über die belebte Uferpromenade gerast war, seien ihm durch den Kopf gegangen. Es gibt eine Äußerung de Maizières aus dem Dezember 2016, die Benjamin Strasser (FDP) in diesem Ausschuss mit Beharrlichkeit zitiert: Er werde drei Kreuze machen, soll der Minister erklärt haben, wenn die Weihnachtsmarktsaison zu Ende gehe, ohne dass etwas Schreckliches geschehen sei.

"Seit langem wurde im Leitungskreis des Ministeriums jederzeit mit einem großen terroristischen Anschlag in Deutschland gerechnet", sagte de Maizière jetzt dem Ausschuss. "Innerlich einstellen können Sie sich darauf nicht." Die Frage sei ja, welcher Vorwurf in den Augen der Öffentlichkeit schwerer wiege. Stelle sich heraus, dass der Täter den Behörden kein Unbekannter war, was im Falle des Breitscheidplatz-Terroristen Anis Amri in der Tat zutraf, werde es heißen: Wieso habt ihr den Anschlag nicht verhindert? Hatten Polizei und Nachrichtendienste den Mann zuvor nicht auf dem Schirm gehabt, werde die Frage lauten, wie sie nur so schusselig sein konnten. Tatsache sei: "Alle Attentäter in Europa waren irgendwie vorher bekannt gewesen."

Im Umlauf ist ein weiteres Zitat de Maizières, an dessen Entkräftung sich Mitglieder des Ausschusses von Anfang an abgearbeitet haben. Am 18. Januar 2017, einen knappen Monat nach dem Attentat, soll der damalige Minister dem Innenausschuss des Bundestages erklärt haben, außer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sei keine andere Bundesbehörde mit Amri befasst gewesen. Ein interessiertes Publikum hat das gerne aufgegriffen, denn ähnlich wie der nicht minder häufig zitierte Ausspruch des damalige Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, Amri sei ein "reiner Polizeifall" gewesen, schien es allzu nahtlos in die seither grassierende Vermutung zu passen, nach dem Anschlag seien die Zuständigen auf allen Ebenen auf nichts so sehr erpicht gewesen wie darauf, die Verantwortung von sich weg zu schieben. Dies zurechtzurücken, ist eines der erklärten Anliegen des Ausschusses.

Tatsächlich hatte sich de Maizière damals anders ausgedrückt. "Wo war der Bund betroffen?", hatte seine Frage gelautet. Die Antwort: "Der Bund war betroffen insbesondere über das Bamf." Aber nicht nur dort. Auch im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ), wo der Fall Amri wiederholt zur Sprache kam, sei der Bund beteiligt gewesen, und nicht zuletzt bei Amris missglücktem Ausreiseversuch im Sommer 2016, der von der Bundespolizei unterbunden wurde. "Ich selbst war vor dem Attentat mit dem Fall Amri persönlich nicht befasst", sagte er jetzt in seiner Vernehmung. Dennoch trage er als damals zuständiger Minister "die volle Verantwortung". Richtig sei aber auch: "Ein schuldhaftes Versäumnis der Sicherheitsbehörden des Bundes oder im GTAZ kann ich nicht feststellen." Und: "Ich wage nicht zu sagen, dass der Anschlag sicher hätte verhindert werden können."

Ganz auf Ursachenforschung verzichten mochte de Maizière freilich nicht. Er wies darauf hin, dass Amri seit Mitte 2016 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei und die tunesischen Behörden im Oktober seine Identität bestätigten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte das im ausländerrechtlichen Verfahren federführende Land Nordrhein-Westfalen Abschiebehaft gegen ihn erwirken können. Zwar galt dafür damals eine Befristung auf drei Monate. Doch diese Regelung wäre auf Amri nicht anwendbar gewesen. so de Maizière, da er die Behörden über seine Identität getäuscht und so die Verschleppung seines Verfahrens schuldhaft herbeigeführt habe.

Womöglich wäre ja auch manches anders gelaufen, hätte man früher auf ihn, den Zeugen, gehört. De Maizière erinnerte daran, dass er sich wenige Tage nach dem Anschlag mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas (SPD) auf ein ganzes Paket an Gesetzesverschärfungen geeinigt habe: "Einen Teil dieser Vorschläge hatte ich schon im August gemacht."