Ortstermin: Der Wissenschaftspreis des Bundestags : Ein Blick ins »Treibhaus Bonn«
Bonn 1953: Die erste Wahlperiode des Deutschen Bundestages neigt sich ihrem Ende zu. Acht Jahre nach Kriegsende ist völlig offen, wie sich die wiedererstandene Demokratie in der neuen Bundesrepublik entwickeln wird. Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen hat das parlamentarische Leben in den frühen Jahren der Bonner Republik als "Treibhaus" beschrieben. Sein gleichnamiger Roman, eine literarische Deutung des damaligen Parlamentsbetriebs, löste unter Zeitgenossen heftige Kontroversen aus.
Der Historiker Benedikt Wintgens (links) untersucht in seiner 2019 veröffentlichten Dissertation "Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans" - am Beispiel des 1953 erschienen Romans - die politisch-kulturellen Grundlagen von parlamentarischer Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus in den frühen Jahren der Republik. Dafür verlieh ihm Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) vergangene Woche den Wissenschaftspreis 2021 des Bundestages.
"Sie haben der parlamentarischen Demokratie einen großen Dienst erwiesen", würdigte Schäuble den Preisträger, Er stützte sich dabei auf das Urteil des Politikwissenschaftlers und Jurymitglieds Herfried Münkler, der dem Preisträger bescheinigte, Koeppens literarische Erkundung des Politik- und Parlamentsbetriebs der frühen Bundesrepublik auf mehreren Reflexionsebenen wissenschaftlich untersucht zu haben.
Auch die Juryvorsitzende, Suzanne S. Schüttemeyer, betonte, dass die Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie seit 1949 eine Erfolgsgeschichte ist. Aus der Perspektive von 1953 sei das aber keinesfalls absehbar gewesen. Es war unklar, sagte Münkler, ob die parlamentarische Demokratie Bestand haben oder wie Weimar scheitern würde. "Eines der überraschenden Ergebnisse meiner Recherchen war, wie umfassend die Zweifel an der Lebensfähigkeit der Demokratie im Nachkriegsdeutschland gewesen sind", sagte auch Wintgens. Der Roman sei Ausdruck des Zweifels und der Sorge - er sei parlamentskritisch, aber nicht antiparlamentarisch. Schüttemeyer nannte es ein "Riesenglück", dass sich die politischen Parteien als handlungsfähige Institutionen bewährt hatten. Lernfähigkeit mache die parlamentarische Demokratie aus.
Die Jury besteht aus neun Professoren des Staatsrechts, der Geschichtswissenschaft sowie der Politikwissenschaft. Sie hatte Wintgens' Arbeit aus 38 Publikationen ausgewählt, auch weil sie bisher weniger beachtete Perspektiven auf die parlamentarische Geschichte aufzeige.
Der 43-Jährige ist seit 2005 Mitarbeiter der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin. Der Bundestag vergibt den mit 10.000 Euro dotierten Wissenschaftspreis seit 1997 alle zwei Jahre. Er würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten, die zur Beschäftigung mit Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen. Volker Müller